Text: Eva Goldschald — Fotos: Johanna Lohr
Wenn sie ihren Gehwagen tief gebückt die Straße entlang durch die Nachbarschaft hievte, trug sie immer diesen langen schweren Mantel, dazu dicke Winterstiefel. Dasselbe Outfit bei Regen, Schnee oder 30 Grad Wärme. Lydia Staltner wunderte sich über diese Frau in ihrem Viertel. Wieso zog sie keine andere Jacke an oder wechselte mal die Schuhe? Irgendwann fand die Münchnerin schließlich heraus, dass die Rentnerin, der sie über Monate immer mal wieder begegnete, keine andere Kleidung besaß. „Ich habe nie regelmäßig gespendet oder war besonders sozial veranlagt. Das Schicksal dieser Frau bewegte mich aber so stark, dass ich mich dazu entschloss, alten Menschen in Not zu helfen“, blickt Staltner zurück.
Damals noch Inhaberin einer eigenen Werbeagentur, gründete Staltner den Verein Lichtblick. Sie mietete ein kleines Büro, in dem sie Kleidung sammeln wollte, um diese an Bedürftige zu verteilen. Sie rief bei diversen Ämtern an, kontaktierte Vereine, Stiftungen und Einrichtungen. Erfolgreich war sie damit aber erst einmal nicht. „Ich bekam von fast allen die Antwort, das sei nicht deren Zielgruppe. Die einen kümmerten sich nur um Kinder, die anderen um Afrika. Für ältere Menschen gab es nichts.“ Ein weiterer Ansporn für die damals 40-jährige.
Lydia Staltner meldete sich bei Altenheimen und Sozialkaufhäusern, gab eine eigens initiierte Pressekonferenz. Zu Beginn waren es zwischen 30 bis 40 Menschen in Rente, die regelmäßig kamen. Aber nur, wenn es nicht regnete. „Ihnen fehlten passende Schuhe für Regenwetter. Die eigenen hatten teilweise Löcher oder waren an der Sohle undicht.“ Staltner verhandelte Rabatte mit Modeläden, baute sich nach und nach ein Netzwerk auf und sammelte Spenden. Irgendwann organisierte sie kleine Ausflüge, mietete einen Bus für Fahrten ins Grüne.
Heute, genau 20 Jahre später unterstützt der Verein regelmäßig rund 27 000 Bedürftige in ganz Deutschland von den Standorten München, Deggendorf und Münster aus. In München gilt ein Viertel der über 60-Jährigen als armutsgefährdet. Laut Lydia Staltner ist Altersarmut überwiegend weiblich. Gut 70 bis 80 Prozent der zu Betreuenden bei Lichtblick seien Frauen. „Sie verdienen noch immer weniger als Männer. Das liegt nicht nur an den Ausfallzeiten durch Kinderbetreuung, sondern auch an deren Berufen. Krankenschwestern, Zahnarzthelferinnen oder Friseurinnen werden einfach nicht gut bezahlt“, erklärt die Vereinsgründerin.
Trotz jahrelanger Arbeit reicht deren Rente nicht zum Leben. Über die Jahre haben Staltner und ihre Mitarbeiterinnen einen entscheidenden Wandel bemerkt. Früher waren es vor allem große Anschaffungen wie Waschmaschinen oder Brillen, die der Verein finanzierte. Heute kommen immer mehr Menschen, die sich Mitte des Monats kein Essen mehr leisten können. Bei Lichtblick erhalten diese dann Gutscheine vom nächstgelegenen Supermarkt.
Voraussetzung für die Unterstützung ist eine so genannte einmalige Bedürftigkeitsprüfung. Die Betroffenen füllen einen Antrag aus, der unter anderem Einnahmen und Ausgaben, die Art der Rentenleistung sowie Infos über etwaige Schulden enthält. Hilfe bekommen bei Lichtblick jene Menschen, die deutsche Rente beziehen. Einmal in die Kartei aufgenommen, wird eine Person ihr Leben lang vom Verein unterstützt und auch begleitet. Das bedeutet viel weniger bürokratischen Aufwand als bei staatlichen Sozialeinrichtungen.
Schnelle Hilfe statt Bürokratie
„Ältere Menschen in Not besitzen oft kein Smartphone, auch keinen Laptop und noch weniger einen Zugang zu Internet. Wir ersparen unseren Bedürftigen lästige Onlineanträge oder lange Wartezeiten und vor allem das Gefühl, nur eine Nummer zu sein. Wer wegen einer Brille oder einem neuen Kühlschrank erst seitenlange Anträge ausfüllen muss und wochenlang auf einen Termin wartet, ist schnell überfordert oder fühlt sich allein gelassen“, verdeutlicht Staltner.
Stattdessen stehe die unbürokratische und vor allem schnelle Hilfe im Vordergrund. Die Leute rufen an oder kommen vorbei, sagen was sie brauchen, bringen einen Kostenvoranschlag und erhalten umgehend das Geld dafür. Mit einer Quittung als Bestätigung ist dann alles erledigt. „Manchmal bleiben nach dem Kauf auch ein paar Euro übrig. Viele wollen das tatsächlich oft zurückgeben. Diese Ehrlichkeit belohnen wir natürlich und überlassen ihnen das Restgeld. Sie können sich damit etwa die erste Ladung Waschpulver kaufen oder sich etwas gönnen, das sie sich sonst nicht kaufen würden, etwa eine gute Schokolade oder ihr Lieblingsgemüse.“
Zusätzlich bietet Lichtblick eine Patenschaft an. Das sind 35 Euro, die monatlich ausgezahlt werden. „Wir vereinbaren mit den Sozialämtern eine Nicht-Anrechenbarkeitserklärung. Sonst müssten Menschen, die Wohn- oder Bürgergeld beziehen, die Spende anteilig zurückgeben.“ Diese Patenschaft ermöglicht, Geld für besondere Anschaffungen wie Geburtstagsgeschenke zu sparen. Viele würden ihre Familien an Weihnachten nicht besuchen, weil ihre Rente nicht für Geschenke reiche. „Dafür schämen sie sich so, dass sie stattdessen die Feiertage alleine verbringen“, erzählt Lydia Staltner. Für solche Fälle organisiert eine der Mitarbeiterinnen einen gemeinsamen Nachmittag am 24. Dezember. Es gibt Punsch, Plätzchen und genauso kleine Geschenke für alle. „Am wichtigsten ist immer, dass es etwas zu essen gibt. Das nimmt ihnen den größten Ballast, weil sie dafür wieder Geld sparen können“, sagt Staltner.
Nach der Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen der Europäischen Union gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Dieser Wert lag laut Statistischem Bundesamt 2021 für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 15 009 Euro netto im Jahr. Das sind 1 251 Euro im Monat. 15,8 Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. „Stellen Sie sich vor, Sie haben 40 Jahre gearbeitet und brutto gut 3 000 Euro verdient. Gar kein schlechtes Einkommen, finde ich. Die Netto-Rente beträgt dann aber gerade mal 1 107 Euro. Wenn Sie Glück haben, finden Sie in München eine Wohnung für 700 Euro Warmmiete. Dann bleiben 400 Euro zum Leben, weniger als das Bürgergeld. Nach 40 Jahren Arbeit müssen Sie dann zum Sozialamt.“
Wem das Geld fehlt, dem fehlt auch soziales Leben. Kinobesuche, ein Nachmittag im Café, ein Ausflug sind unmöglich. Deshalb organisieren die Mitarbeitenden bei Lichtblick immer wieder Unternehmungen, sie besuchen Theaterstücke oder bieten gemeinsames Frühstück an. Wie nötig diese Angebote sind, spürt Lydia Staltner besonders dann, wenn ihr Menschen erzählen, dass sie sich ohne die Unterstützung des Vereins bereits das Leben genommen hätten.
Wenn das Geld nicht ausreicht
Das Münchner Vereinsbüro liegt in der Schweigerstraße unweit der Isar in Au-Haidhausen – eine sehr begehrte Wohngegend, der Quadratmeter kostet gut 27 Euro warm. Direkt vor dem Büro gibt es eine Bushaltestelle. Dort beobachten Staltner und ihre Kolleginnen oft die älteren Menschen, wenn sie die Straße auf und abgehen. „Sie tun so, als würden sie auf den Bus warten, tatsächlich sehe ich den Menschen an, wenn sie zu uns wollen“, beschreibt Staltner. „Einige brauchen ihre Zeit, ehe sie sich wirklich trauen und um Hilfe bitten“.
Mittlerweile ist es kurz nach 10. Das Telefon klingelt ununterbrochen, die drei Mitarbeiterinnen im Empfangsbereich haben kaum Zeit, ihren Platz zu verlassen. „Pro Woche gehen etwa 100 neue Anträge über den Tisch“, erzählt Jelica Komljenovic, die gerade die Daten eines neuen Antrags ins System eingibt. Währenddessen bringen Menschen als Dank Blumen vorbei oder wollen einfach nur mit jemandem reden. „Eine ältere Dame ruft sogar am Wochenende an, um die Stimme einer Mitarbeiterin am Anrufbeantworter zu hören“, sagt Komljenovic.
Am Tisch im Eingangsbereich sitzen Peter und Dagmar. Die beiden kommen regelmäßig bei Lichtblick vorbei. Sie nehmen an den Ausflügen teil und vor allem Dagmar liebt den Kaffee, den es hier gibt. Die Seniorin erhält 602 Euro Rente pro Monat. Richtig guter Kaffee und eine knusprige Butterbrezel, frisch aus der Bäckerei, sind für sie wahrer Luxus. Die gebürtige Münchnerin war vor ihrer Rente bei der Stadtentwässerung angestellt. Ihr Lohn reichte nie aus, um sich ein ordentliches Polster für den Ruhestand anzulegen. „Wenn ich mir von dem wenigen Verdienst auch noch was weggespart hätte, wäre ich verhungert“, so die 72-Jährige.
Nach einer Operation am Kopf konnte sie nicht mehr arbeiten. Dagmar erhielt mit 60 Jahren Erwerbsminderungsrente. Peter war als Pilot und Offizier bei der American Airforce angestellt. Eigentlich würde ihm eine stattliche Rente zustehen. Weil er sich aber, wie seine Frau erzählt, nicht verbiegen wollte und mit den Arbeitsmethoden auch nicht einverstanden war, schied er daraufhin frühzeitig aus. Seine Rente hat die USA dem 88-Jährigen deshalb verwehrt. Seine 626 Euro Rente erhält er heute aus seiner Zeit beim Zoll.
Zusammen bleiben dem Paar insgesamt 1 228 Euro monatlich. Und bei beiden wird die Rente mit Grundsicherung aufgestockt. Nach Abzug von Miete und Nebenkosten (außer Strom) bleiben pro Person ein Bürgergeld-Satz von 502 Euro zum Leben übrig. Hilfe annehmen, das ist für Dagmar kein Problem, ihren Mann kostete das mehr Überwindung. „Als wir noch kein Paar, sondern nur Nachbarn waren, habe ich Peter erzählt, dass Menschen bei Lichtblick so gut behandelt werden. Beim nächsten Mal hab ich ihn einfach mitgenommen“, sagt Dagmar.
Während sie munter erzählt, sitzt Peter daneben und hört aufmerksam zu. Er steht ungerne im Mittelpunkt und lässt lieber seine Frau sprechen. Als sie allerdings vom Ausflug an den Tegernsee erzählt, wird er rege. Peter hebt seinen Kopf, lächelt über das ganze Gesicht und ergänzt begeistert: „Ein anderes Mal sind wir mit Lichtblick an den Chiemsee gefahren und mit dem Boot zur Fraueninsel, das war richtig schön, aber wirklich, richtig schön.“
Fahrscheine und Kühlschrank
Zu den beiden gesellt sich auch Brigitte und bestellt ebenfalls einen Kaffee. Bevor sich die 74-Jährige auf den Stuhl neben Dagmar setzt, fällt ihr Blick auf ein paar Kartons, in denen neue Schuhe liegen. Größe 38 bis 44 steht dort auf DIN A4-Blättern geschrieben, die jeweils über den Papierschachteln an der Wand kleben. „Schauen Sie mal, die Schuhe die san ja sche, ham Sie die scho gesehen, die könnten Ihrem Mann passen“, sagt Brigitte im bayrischen Dialekt.
„Ui, na, die kenn ich noch gar nicht, schau mal Peter, die könnten dir passen.“ Die beiden Frau präsentieren Peter mehrere Modelle aus Leder, die nur einmal bei einer Modenschau getragen wurden. „Was die wohl gekostet haben, mein Gott, so tolle Schuhe.” Brigitte wühlt aufgeregt in den Kartons. In ihrer Größe findet sie nichts Passendes, aber Peter bekommt dunkelbraune Mokassins aus Leder, die seine Frau gleich in ihre Stofftasche steckt.
Brigitte hat ihr ganzes Leben gearbeitet. Nach ihrer Ausbildung zur Keramikmalerin war sie bei der Post beschäftigt, ging nebenbei zusätzlich putzen. Heute lebt sie von 1 106 Euro Rente im Monat. Damit liegt sie knapp über der Grenze von 924 Euro und erhält keine Grundsicherung. „Ich habe mir am Anfang jeden Monats 20 Euro weggelegt in der Hoffnung, dass es mal mehr wird. Bevor ich Hilfe von Lichtblick bekommen habe, waren die immer ganz schnell weg.“ Der Verein zahlt für die 74-Jährige einen Fahrschein, mit dem sie das ganze Jahr mit öffentlichen Verkehrsmitteln in München fahren kann. Auch ihr Kühlschrank kommt von Lichtblick.
„Ich würde mir gerne mehr Geld auf die Seite legen“, flüstert sie. „Meine Waschmaschine ist jetzt schon über zehn Jahre alt und funktioniert nicht mehr so gut. Das will ich hier aber nicht sagen, weil ich ja schon einen neuen Kühlschrank bekommen habe.“ Täglich studiert sie die Angebote der Discounter. „Beim Lidl war die Paprika letztens so billig, beim Aldi kostete der Brokkoli nur 73 Cent, den hab ich mir gegönnt. Manchmal kostet der 2,99 Euro, dann kann ich ihn mir nicht leisten“, erzählt sie. Am liebsten sind ihr Kartoffeln im Angebot, letztens das Kilo für 99 Cent. Davon wird sie satt und kann viele unterschiedliche Gerichte kochen.
Festnetz, Handy und Internet hat Brigitte direkt mit der Rente gekündigt. Obwohl sie nur in einer 40 Quadratmeter großen Sozialwohnung lebt, frisst die Miete die Hälfte dessen, was ihr monatlich zur Verfügung steht. Kein spontaner Besuch im Café, keine Appetit-Käufe und nur einmal im Jahr zum Haareschneiden. Einfach etwas kaufen, weil sie darauf richtig Lust haben? Das kennen diese Menschen im Rentenalter nicht. Mit der Hilfe von Lichtblick erhalten Peter, Dagmar, Brigitte und viele weitere zumindest etwas Würde zurück.
„Achtung verdient, wer vollbringt, was er vermag“, zitiert Dagmar einen Satz, den sie einmal gelesen hat und erzählt weiter: „Wenn ein Mensch etwas tut, das seine volle Anstrengung kostet ist das genauso viel wert, wie wenn ein Sportler einen Marathon läuft. Alle tun das, was sie vermögen und deshalb ist jeder Mensch genau gleich viel wert. Auch wir tun alles was wir können mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wenn es eben nicht mehr geht, dann hilft uns Lichtblick“, sagt Dagmar und bestellt noch einen Kaffee, weil der ihr so gut schmeckt.
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