Text: Andrea Schöne — Fotos: Benjamin Jenak
Immer wieder kommentieren nichtbehinderte Menschen wahllos ein Bild von Luisa L’Audace auf Instagram. Fotos, die zeigen, wie sie im Park unterwegs ist oder andere alltägliche Dinge tut. Und meist schreiben sie dazu, wie inspirierend all das sei. Denn: Die Mittzwanzigerin hat eine Körperbehinderung. Luisa L’Audace sieht diese vermeintlich bewundernden Kommentare kritisch. Für einige Menschen ohne Behinderung scheine es geradezu wohltuend zu sein, sich mit behinderten Menschen zu vergleichen, weil ihre eigenen Probleme damit so viel kleiner erscheinen würden. „Ich habe häufig den Eindruck, dass Menschen denken, das sei das Einzige, wofür behinderte Menschen da sind: Inspiration für das eigene Leben darzustellen.“
Mit ihrem Eindruck steht sie nicht allein: In der Community prägte die australische Aktivistin Stella Young in einem Ted-Talk den Begriff„Inspiration Porn“. Er beschreibt, dass Menschen mit Behinderung zu einem „Objekt der Inspiration“ gemacht werden – ganz egal, ob sie das selbst so sehen oder nicht. Young erhielt einst einen Schulpreis aufgrund ihrer Behinderung und ihres Umgangs damit im Alltag – und nicht wegen ihres Engagements.
Auch Luisa L’Audace findet es schwierig, wenn sie dafür sorgen soll, dass nichtbehinderte Menschen sich besser fühlen. Die junge Frau ist Inklusionsaktivistin und bloggt seit einigen Jahren auf Instagram über Ableismus und Empowerment für Menschen mit Behinderung – mehr als 24 000 Menschen folgen inzwischen ihrem Kanal.
L’Audace hat eine seltene angeborene neuromuskuläre Erkrankung. Im Alltag nutzt sie daher einen Gehstock oder ihren Rollstuhl. In den vermeintlich bewundernden Netzreaktionen sieht sie eine Form des Ableismus. Der Begriff beschreibt die Diskriminierung von behinderten Menschen, indem sie alleine auf ihre Behinderung reduziert werden – mit folgenschweren Denk- und Verhaltensweisen. Diese können wie beim „Inspiration Porn“ zu einer scheinbaren Aufwertung führen, genauso aber zur der abwertenden Annahme, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung bestimmte Dinge nicht leisten könnten.
Für Luisa L’Audace geht Ableismus allerdings auch damit einher, dass Menschen, die aus marktwirtschaftlicher Perspektive weniger leisten, in der Gesellschaft auch weniger wert seien, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm – nicht behindert zu sein – entsprechen. Genau darüber klärt sie als Aktivistin auf Instagram auf.
Konfrontation mit Ableismus
Geplant war dieser Netzaktivismus nicht. Vor drei Jahren ging es L’Audace gesundheitlich sehr schlecht. Sie begann darüber auf Instagram zu bloggen, um andere Menschen zu finden, denen es ähnlich geht wie ihr – und um sich auszutauschen. L’Audace merkte, dass sie mit ihren Erfahrungen und Gefühlen nicht alleine war. Und sie fing an, sich mehr über Ableismus zu informieren. Sie habe erst nach und nach gelernt, „dass ich diese Gefühle haben darf und mir diese Dinge passieren, weil ich zu einer marginalisierten Gruppe gehöre“.
Die Erkenntnis führte dazu, dass die Mittzwanzigerin häufiger über Diskriminierung sprach. Inzwischen konzentriert sie sich komplett darauf. „Ich möchte Betroffene empowern, dass wir Raum einnehmen und uns so fühlen dürfen. Auch möchte ich Aufklärungsarbeit betreiben, um nichtbehinderten Menschen zu zeigen, was sie anders machen sollten.“
Durch die eigene Geschichte konnte sie ganz verschiedene Blickwinkel und Erfahrungen mit Ableismus im Alltag sammeln. „Wenn ich still irgendwo in der Ecke sitzen würde, dann würde mir wahrscheinlich niemand meine Behinderung ansehen“, erklärt sie. Unsichtbar behinderte Menschen seien damit konfrontiert, dass ihnen ihre Behinderung abgesprochen werde. Oft musste L’Audace beweisen, dass sie viele Dinge nicht machen kann. Als ihre Behinderung immer sichtbarer wurde und sich nicht mehr verstecken ließ, nahm die Stigmatisierung zu.
L’Audace erzählt, dass sie sich je nach Situation verschieden zu ihrer Behinderung äußern müsse: „Bei Ämtern muss ich beweisen, dass es mir ‚schlecht geht‘ und zeigen, was ich nicht kann, um bestimmte Dinge zur Teilhabe zu bekommen. Im Arbeitsleben dagegen muss ich demonstrieren, dass ich gar nicht so eingeschränkt bin, wie es andere erwarten würden.“
Der Aktivismus habe L’Audace bewusst gemacht, dass ihr niemand ihre Erfahrungen und Gefühle im Alltag absprechen dürfe. Und: dass Menschen gar nicht immer sofort bemerken würden, dass sie diskriminiert werden. Auch behinderte Menschen wachsen schließlich in einer Gesellschaft auf, die Ableismus reproduziert. „Das heißt, dass sie diese Erfahrungen und Denkmuster häufig selbst verinnerlichen.“ Der Fachbegriff dazu lautet internalisierter Ableismus und er hat weitreichende Folgen für den Alltag behinderter Menschen, weil sie beispielsweise Angst haben, Barrierefreiheit einzufordern. Oder sie fühlen sich minderwertig, da sie von ihrer Umwelt mehrfach beleidigt wurden.
Ein kaum sichtbares Problem
Luisa L’Audace nennt es den „Inner Ableist“ – ein kleines, gemeines Männchen, das auf ihrer Schulter sitzt und ihr Selbstzweifel zuflüstert. Als „Gaslighting“ beschreibt die Psychologie diese Form von Gewalt oder Missbrauch, mit der Menschen gezielt desorientiert, manipuliert und zutiefst verunsichert werden. Die Folge: L’Audace stellt ihre Wahrnehmung der Realität und ihre Gefühle als Person mit Behinderung infrage. „Ich brauche meist lange, bis ich mich traue, um Hilfe zu bitten, auch wenn mir die zum Beispiel im Haushalt zustehen würde.“
Je länger sie sich mit dem Ableismus auseinandersetze, umso mehr ableistische Denkmuster entdecke sie bei sich selbst, erzählt sie. Ableismus ist nicht unbedingt ein neuer Begriff, aber einer, der noch zu selten genutzt wird. Im deutschen Sprachraum etwa wird Diskriminierung überwiegend als „Behindertenfeindlichkeit“ beschrieben. Ableismus allerdings geht in der Beschreibung des Problems sehr viel tiefer, da der Begriff zum Beispiel auch dahinterliegende Denkmuster aufgreift, den Wert eines Menschen von Leistung abhängig zu machen und behinderte Menschen als „nicht fähig“ zu sehen.
Diskriminierung von Menschen mit Behinderung ist bis heute in der öffentlichen Diskussion in Deutschland weit weniger bekannt als Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus. Erst durch die Netzaktion #AbleismTellsMe der US-amerikanischen Aktivistin Kayle Hill, die hierzulande ein großes mediales Echo auslöste, wurde Ableismus zum ersten Mal offener diskutiert.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ruft die Vertragsstaaten zudem dazu auf, „sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um in der Gesellschaft, einschließlich auf der Ebene der Familien, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern; Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, einschließlich aufgrund des Geschlechts oder des Alters, in allenLebensbereichen zu bekämpfen; das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern.“
In den deutschen Gesetzen sind jedoch keine Maßnahmen gegen Ableismus verankert, eine nationale Kampagne gibt es nicht. Die aber wäre dringend notwendig, meinen Betroffene. Für Luisa L’Audace besteht jederzeit die Gefahr, mit einer ableistischen Situation konfrontiert zu sein. Pausen gibt es nicht. „Meine Betroffenheit ist nicht wie ein Mantel, den ich mal eben ausziehen kann, um mich ein paar Tage nicht damit beschäftigen zu müssen.“
Instagramkanal als Plattform
L’Audace bekommt auf Instagram bisher viel positive Resonanz. Andere behinderte Menschen tauschen sich online mit ihr aus oder fragen um Rat, wenn sie gesammelte Erfahrungen nicht einordnen können – und bedanken sich für die beharrliche Aufklärungsarbeit. Auch erhält sie Nachrichten von nichtbehinderten Menschen, die ihr schreiben, dass sie ohne die Posts vieles nicht verstanden hätten und enden mit dem Versprechen, ihr Verhalten ändern zu wollen.
Der Netzaktivismus der jungen Frau trifft jedoch nicht das Verständnis von allen. „Gerade Menschen, die kein Instagram nutzen, verstehen oft nicht, welche Tragweite meine Arbeit dort einnehmen kann und dass diese auch wirklich Menschen erreicht“, so L’Audace. Und es gibt auch ablehnende Reaktionen – meist von jenen, die sich nicht eingestehen wollen, dass auch sie sich diskriminierend verhalten. Andere werfen ihr vor, „zu emotional“ zu sein. „Inklusion und die Diskriminierung von behinderten Menschen ein Teil meiner Lebensgeschichte und Identität. Ich kann das nicht einfach beiseite lassen und nur nüchtern besprechen.“
Manchmal wird ihr Netzaktivismus ganz offen belächelt. L’Audace findet das ableistisch, da die meisten behinderten Menschen dieser Form von Aktivismus noch am ehesten nachgehen könnten. Die meisten Demonstrationen etwa sind nicht barrierefrei oder auch nicht allen kräftemäßig möglich. Im Netz bekannter zu werden, sei auch viel einfacher, als durch eine Protestaktion auf dem Marktplatz. Ohne Netzaktivismus wüsste die junge Frau nicht, ob sie selbst jemals einen Zugang in den Aktivismus gefunden hätte.
Inzwischen aber ist L’Audace nicht mehr nur auf Instagram unterwegs, sondern sie führt auch analoge Gespräche mit Menschen, die in Entscheidungspositionen sitzen und die sie mit ihren Anliegen über die sozialen Netzwerke erreicht hat. Was Luisa L’Audace vermisst, das ist die echte Nähe und Solidarität von Menschen, die sich außerhalb der Gemeinschaft behinderter Menschen engagieren. Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Behinderung werden in deren Arbeit meist vergessen. Es sei problematisch, dass das Engagement gegen Ableismus ausschließlich von Menschen mit Behinderung betrieben wird, findet sie.
Andere Menschen aufrütteln
Ein Beispiel seien die fehlenden Reaktionen anderer Engagierter auf die grausame Gewalttat, die sich Ende April 2021 in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung des Vereins Oberlinhaus in Potsdam ereignete: Vier Menschen mit Behinderung wurden mutmaßlich von einer Pflegekraft ermordet, eine weitere Frau mit Behinderung schwer verletzt.
Luisa L’Audace sagt, die Medien hätten das Geschehene verharmlost. Sie wünscht sich die Solidarität nichtbehinderter Menschen. Als Reaktion auf die Tat schrieb sie damals einen Post darüber, wie Menschen ohne Behinderung Verbündete für behinderte Menschen sein können. Dazu gehöre zum Beispiel, den Betroffenen zuzuhören, ihnen den Rücken zu stärken, das eigene Denken und Sprechen zu reflektieren und auf Missstände aufmerksam zu machen, „ohne marginalisierte Personen dabei zu übertönen“.
Die Netzaktivistin möchte mit solchen Beiträgen verhindern, „dass wir weiterhin nur im Untergrund existieren und sich Vorurteile halten, ohne dass wir diese selbst widerlegen können, weil wir im Alltag von vielen Menschen nicht vorkommen.“ Engagierte Menschen sieht sie deshalb in der Pflicht, auch behinderte Menschen in ihrer Arbeit sichtbar zu machen. Es sei schmerzhaft für sie, gerade von denjenigen vergessen zu werden, die sich selbst als achtsam und problembewusst bezeichnen. Noch immer gebe es Berührungsängste.
Mit den Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung seien andere selten vertraut. Luisa L’Audace plädiert daher für eine respektvolle Kommunikation: „Fragt mich, wenn ihr unsicher seid, wie ihr mit meiner Behinderung umgehen sollt.“ Menschen, die besonders offen auf sie zugehen, hätten meist vorher schon Kontakt mit behinderten Menschen gehabt. Deswegen ist Luisa L’Audace davon überzeugt, dass Inklusion in der Schule oder im Kindergarten viel nützen würde, um Unsicherheiten vorzubeugen.
Konkrete Pläne für die Zukunft hat L’Audace nicht. Die lasse sie auf sich zukommen. Ihr Aktivismus aber habe ihr enorm dabei geholfen, sich mit ihrer eigenen Behinderung zu identifizieren. Und enden werde der auch so schnell nicht. Während der Corona-Pandemie startete sie zusammen mit einer Freundin, die ebenfalls zur jungen Risikogruppe zählt, den Podcast „Wartezimmer-Talk“. Der soll auch nichtbehinderten Menschen die Lebensrealitäten behinderter Menschen näher bringen. Der Name zum Podcast entstand, weil sich beide in einem Wartezimmer kennenlernten. Beim Online-Magazin „Die Neue Norm“ veröffentlichte L’Audace zudem eine Kolumne. „Schreiben war schon immer etwas, das ich sehr liebe und ein Medium, mit dem ich am besten meine Gefühle ausdrücken kann.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/shop. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!