Großes Mädchen — Cindy Fuchs

Wenn Krisen sich zuspitzen, setzt sich Cindy Fuchs an ihr Zeichenbrett. Im Krankenhaus rettet die OP-Schwester Menschenleben, nach Feierabend die Welt. Ihre Zeichnungen nennt sie Kritzeleien, für alle anderen sind sie Kunst.
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Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak

Für ein Epos wäre Cindy Fuchs eine glänzende Protagonistin: Als maskierte Retterin mit Klemme und Tupfer gerüstet, dem ewigen Kampf für das Gute verschrieben mit Leib und Leben, tritt sie Tag und Nacht gegen die Dämonen an – und wird dafür mager bezahlt mit Applaus, Pralinen und Schulterklopfen. Tragik ist ein Merkmal des Heldinnenhaften. Doch Fuchs ist widerspenstig: Sie begehrt in Bild und Tat gegen die Verhältnisse auf.

„Schon bevor ich einen Löffel halten konnte, hatte ich einen Stift in der Hand“, erzählt die Künstlerin, die unter ihrem Pseudonym Cndrll bekannt ist. Als Kind liebte sie es, Disney-Figuren zu zeichnen. Doch so radikal, wie sie Cinderella für ihren Künstlerinnennamen um alle Vokale kürzte, streift Fuchs heute einengende Körperideale und Rollenbilder ab: Ihre Alltags-Prinzessinnen haben Dellen, Röllchen, Pickel – und eine Haltung. Ihr erhobener Mittelfinger macht deutlich: Eigenliebe braucht gelegentlich eine Portion „Fuck off“ zum Happy End. „Alle Probleme, die ich anprangere, habe ich selbst. Da sind so viele Fragezeichen in meinem Kopf. Aber ich sage mir: Das ist ok. Ich mag mich trotzdem“, sagt Fuchs und zwinkert.

Auf dem Weg dahin habe Cindy Fuchs das Zeichnen geholfen. „Das ist wie ein Hausputz im Oberstübchen, der mir hilft, mich mit meinen Empfindungen auseinanderzusetzen“, bemerkt sie. Ihre „Kritzeleien“ seien der Rückspiegel, in dem sie die Landschaft ihrer Seele betrachten könne. Dass sie anderen Menschen viel bedeuten, habe sie durch Instagram festgestellt. Dort postete sie ein Tattoo-Motiv, das sie für eine Freundin entworfen hatte. Ihre Community wuchs daraufhin vor allem im englischsprachigen Raum.

Dass ihre Bilder polarisieren, stellte Fuchs auf einem Dresdner Stadtteilfestival 2019 fest, als sie ihre Arbeiten präsentierte und dafür ihr Bild „Sweet Nectar“ großformatig aufzog. Es zeigt eine geöffnete Rosenblüte, in die zwei Finger eintauchen – dazu die Botschaft: „Treat yourself right.“ Verlegenheit habe das bei einigen hervorgerufen, erinnert sich Fuchs und kichert. Sie selbst will mit Scham keine Zeit mehr verschwenden. In der Schule sei sie häufig mit ihrem Gewicht konfrontiert gewesen und habe sich nicht wohlgefühlt: „Ich wusste, dass die anderen sich auch Gedanken über ihre Körper machen. Ich dachte aber, ich als großes Mädchen bin die Einzige, die sie sich wirklich machen muss. Heute weiß ich: Das muss niemand. Wenn andere labern, ist das kein Problem. Wenn du es dir zu Herzen nimmst, wird es gefährlich.“

Der Stand auf dem Stadtteilfest war für Fuchs eine Premiere. „Ich habe Prints in die USA, nach Kanada und auf die Philippinen verschickt, aber in Dresden kannte mich niemand. Das wollte ich ändern.“ Schon am ersten Tag waren ihre Drucke ausverkauft. Mittlerweile trägt eine feministische Party-Reihe ihre Handschrift, für die diesjährige Techno-Tanzparade Tolerade entwarf sie das Plakat und auf so mancher Tür in ihrem Dresdner Stadtteil klebt ihr Aufruf: „Wear your damn mask properly!“ Dieser prangte auch auf dem Schild, mit dem sie sich im Winter 2020 stundenlang an eine vielbefahrene Straße in der Elbestadt stellte, um auf den Notstand in der Pflege aufmerksam zu machen. „Viele haben gehupt, aber noch mehr haben nach oben gereckte Daumen gezeigt.“

Corona als Grenzerfahrung

Die Corona-Pandemie wurde für die OP-technische Assistentin schnell zu einer persönlichen Krise. „Der Druck konzentrierte sich auf dem OP-Tisch.“ 24-Stunden-Dienste in Vollmontur: Das bedeutete, manchmal stundenlang weder trinken noch auf Toilette gehen können, sagt Cindy Fuchs. Unterbezahlt und unterbesetzt um das Überleben von Infizierten zu kämpfen, viel zu häufig erfolglos – eine Situation, die sie schwer belastete. „Und dann sehe ich auf dem Heimweg in der Bahn Leute, die keine Maske aufhaben.“ Zu alldem kam noch der Tod der geliebten Großmutter, die sie aufgrund des damals geltenden Besuchsverbots nicht begleiten konnte. „Ich bin in ein Loch gefallen“, sagt Fuchs. Mehrere Wochen lang war sie nicht in der Lage zu arbeiten. Ihre Zeichnungen aus dieser Zeit handeln von Einsamkeit und Trauer.

Schritt für Schritt habe sie sich zurückgekämpft – auch durch die mitfühlenden Weckrufe der Internet-Community. „Die Menschen sind immer angehalten, glücklich und zufrieden zu sein. Das ist auch erstrebenswert. Aber sich schlecht fühlen hat genauso seine Berechtigung.“ Mit dieser Gewissheit tastete sich Fuchs wieder aus ihrem Bau, spitzte die Stifte, lernte behutsam wieder lächeln – und traf eine Entscheidung. Ihren Beruf übe sie leidenschaftlich gerne aus, aber die Arbeitsbedingungen ermöglichten es ihr nicht, ihren Ethos auch täglich zu leben.

Proteste hätten bislang nichts verändert, streiken käme in ihrem Beruf nicht infrage, fasst sie zusammen. Leiden würden darunter vor allem die Schwachen – ein Dilemma, aus dem Fuchs persönliche Konsequenzen gezogen und ihre Opt-aut widerrufen hat. Der Begriff beschreibt im Arbeitsrecht die Möglichkeit, dass Arbeitgebende ihren Mitarbeitenden eine höhere Wochenarbeitszeit als die im Gesetz festgelegten 48 Stunden abverlangen dürfen. Für Fuchs seien das durchschnittlich ungefähr 60 gewesen.

Um vier Uhr morgens aufstehen, zwölf Stunden arbeiten, Grenzerfahrungen machen: Das kennt Cindy Fuchs schon aus ihrer Ausbildung. Es sei eine harte Schule gewesen: streng und hierarchisch, aber schon auch familiär und herzlich. „Diese Zeit hat mich geprägt und mir die Ernsthaftigkeit vermittelt: Wir befinden uns hier in einem OP-Saal.“ Genau das weiß Fuchs an ihrer Arbeit zu schätzen: Die Routine im Notfall, das Handeln im Team, das meist keine Worte braucht. „In einer Welt, in der so viel ungewiss ist, gibt mir das unendlich viel. Gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten: dem Menschen, der da liegt, zu helfen.“ Es seien nicht nur die freudigen Momente, die sie haben reifen lassen, sondern auch das Gefühl der Machtlosigkeit.

„Es gibt Tage, an die erinnerst du dich dein ganzes Leben lang. Der Job hat mich ehrfürchtig gemacht.“ Fuchs hat darin ihre Rolle gefunden. Mittlerweile lernt sie ihrerseits Pflegekräfte an – im Dresdner Uniklinikum, einem Ort, der ihr als junge Auszubildende einschüchternd wie ein Palast vorkam. Viel zu stark erlebe sie ihn heute als Mahlwerk: „Wir sind alle körperlich an unsere Grenzen gekommen.“ Deshalb will sie sich zukünftig beruflich mehr auf ihre Designs konzentrieren, getreu ihrer Maxime: „Du musst dir deinen eigenen Weg erschließen können.“

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/shop. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!

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