Unruhestand — Lothar König

Lothar König wurde bekannt als der Pfarrer, der sich mit Nazis und der Polizei anlegt. Sein berufliches Ende begleitete der Sohn mit der Kamera. Doch der Titel „König hört auf“ stellt sich als Behauptung heraus.
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Text: Marius Münstermann — Fotos: Benjamin Jenak

Lothar König hat sich selbst eineinhalb Stunden in der Hauptrolle gesehen, als er den Kinosaal verlässt. „König hört auf“ heißt der Film, den Sohn Tilman gedreht hat. Er hat den Vater in den Monaten vor und nach dessen offizieller Verabschiedung aus dem Pfarramt mit der Kamera begleitet: bei der Predigt auf der Kanzel, auf Punkkonzerten im Jugendclub, beim Umzug aus der Pfarrwohnung zurück in den alten, leerstehenden Bauernhof der Familie im Harz. Der Film ist keine Hommage, sondern ein intimes Portrait eines eigenwilligen Charakters.

Lothar König hat das Ergebnis der Dreharbeiten vorab nicht gesehen, sondern erst bei der Premiere auf dem Dokumentarfilmfest in Leipzig – auf der großen Leinwand im Saal und zusammen mit dem Publikum. Der unbefangene erste Eindruck war ihm wichtig, „authentisch und ehrlich“ sollte die anschließende Diskussion sein, denn aus seiner jahrelangen Erfahrung in der Jugendarbeit weiß König: „Die besten Gespräche und Ideen entstehen spontan.“

Jetzt sitzt Lothar König auf einer Parkbank vor dem Kino, raucht eine Selbstgedrehte und erzählt von seinem Leben, von den bewegten Jahren als Pfarrer und dem, was folgen wird. Und es klingt jedenfalls so gar nicht, als wäre König nach Aufhören zumute. „Ich warte auf die Dinge, die noch kommen mögen. Bislang fühlt sich das gut an.“ Und so redet er drauf los. Es wird kein Interview, eher ein Monolog mit gelegentlichen Nachfragen, bevor König schon wieder den nächsten gedanklichen Haken schlägt. Er redet wuchtig und wortgewandt, ein belesener Mann mit dem Rauschebart á la Karl Marx, eine wandelnde Bibliothek, zitiert aus dem Gedächtnis Adorno, Christa Wolf und quer durch die Bibel. „Ich denke in Geschichten.“

Besonders gern erzählt König folgende Anekdote: „Was ist eigentlich links? Ich weiß es doch auch nicht. Ich komme ja vom Dorf. Da gab es Kühe, Schweine, Pferde und so. Alles Mögliche, nur Linke gab es nicht.“ Was Recht und was Unrecht ist, wusste König aber früh. Er wuchs auf in der DDR, in Leimbach im Harz. Er sagt, er war damals kein organisierter Widerständler, es sei eher die Langeweile gewesen, als er 1969 – im Alter von 15 Jahren – am ersten Jahrestag des Einmarsches in der CSSR den Namen Dubček an eine Hauswand sprühte, in Solidarität mit Alexander Dubček, der Leitfigur des niedergeschlagenen Prager Frühlings. Am nächsten Tag durchsuchten Stasi und Polizei den Hof der Familie.

Die Aktion kostete König die Zulassung zum Abitur, verpasste ihm seinen ersten Akteneintrag als „feindlich-negatives Element“ – und weckte in ihm den Widerstandsgeist. Er wird einer der „Langhaarigen“, Hippies des Ostens. Noch heute trägt er selbst im Winter Sandalen.

Königs Weg zum Religiösen

In der Schule eckt Lothar König weiter an. „Sie haben uns die langen Haare abgeschnitten, Jeans verboten, eintreten in die FDJ sollten wir. Aber wir hatten die Musik – Beatles, Stones, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Cream und wie sie alle hießen. Und in der Musik waren wir frei, da konnten uns die Lehrer und die Polizei gar nichts.“ 

König machte zunächst eine Ausbildung zum Zerspanungsfacharbeiter und landete auf Umwegen bei der Kirche. Das kam so: Als die ostdeutsche Hippie-Szene zerfiel, fand ein Teil von ihr ein neues Zuhause bei der evangelischen Kirche. König fremdelte anfangs mit den Gläubigen: „Die hatten alle mächtig einen an der Klatsche.“ Jungfräuliche Geburt? Quatsch! „Und dieser Jesus soll leben, soll auferstanden sein? Was für ein Blödsinn, hab ich gedacht. Erst nach und nach hat es bei mir gedämmert. Da meldet sich ja einer zu Wort, der nicht unterzukriegen ist. Da gibt es neben der herrschenden Geschichte noch eine ganz andere. Eine Geschichte voller Musik, voller Freiheit, von unendlichen Wäldern voller Sehnsucht und sonnengelbem Strand. Und der Himmel geht auf und leuchtet wie Unendlichkeit. Und denen, die im Finsteren wandeln, scheint ein großes Licht.“

Und so machte König schließlich eine Ausbildung zum Pfarrer, wenngleich er zwischenzeitlich für „als Pfarrer untauglich“ befunden wurde. Noch heute referiert König die Lehre Gottes am liebsten auf unkonventionelle Weise: „Der Grundschlag der Bibel heißt Freiheit. So fängt es an, als ein paar Verrückte meinen, Sklaverei sei nicht in Ordnung.“ Er meint Jesus und seine Jünger. „Und die sagen es auch noch laut.“ So hat er das vor einigen Jahren aufgeschrieben in einem fulminanten Essay für das Magazin Rolling Stone. „Ich denke ja, dass dieser Jesus nach heutigen Maßstäben ein Linksextremist ist. Wenn es nach ihm geht, werden die Mächtigen von den Thronen gestürzt. Und er will ein Feuer anzünden auf Erden.“ 

Während des Theologie-Studiums las er Marx, Bakunin, Tolstoi, Dutschke. In Merseburg erhielt er 1986 seinen ersten Posten als Pfarrer. Die Stasi observierte seine Aktivitäten in der Jugendarbeit von Anfang an. Das allerdings hielt ihn nicht davon ab, die örtlichen Montags-Demonstrationen mitzuorganisieren und die Kunde von der Friedlichen Revolution auszurufen.

Dann kam die „Neuzeit“ – das Wort Wende verwendet er nicht – und die Neonazis, die es im Sozialismus offiziell nicht geben durfte, krochen aus ihren Löchern. König wechselte nach Jena, übernahm Ende 1989 die Junge Gemeinde Stadtmitte und machte sie „zum ersten Ort, an dem die Langhaarigen und Punks sich treffen konnten.“ Anfangs versuchte er auch auf die rechten Jugendlichen zuzugehen, doch erkannte bald die Grenzen pädagogischer Arbeit. „Du kannst nicht mit Menschen diskutieren, die ideologisch gefestigt sind“, erklärt Lothar König. „Du kannst mit einem Nazi einen ganzen Tag verbringen und am Ende des Tages mag er seiner Ideologie sogar abschwören – aber dann geht er zurück zu seiner Gruppe von Nazis.“ Also duldete er keine Neonazis mehr im Jugendhaus.

Tochter Katharina, die heute als Abgeordnete für Die Linke im Thüringer Landtag sitzt, wurde im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal von Neonazis verprügelt. Die Angreiferin: eine Freundin des späteren NSU-Mitglieds Beate Zschäpe. Das gusseiserne Tor, das sie am Jugendhaus anbringen ließen, half nicht immer. Davon zeugt eine Narbe, die sich über Königs rechtem Auge bis zur Schläfe zieht: eine Erinnerung an einen brutalen Angriff mit einem Schlagring. 

Warnung vor rechtem Terror

Lothar König sagte stets klipp und klar: „Jena hat ein Neonazi-Problem.“ Schon lange vor der Selbstenttarnung des NSU, der sich in der Stadt formierte, warnte er die Öffentlichkeit und auch Sicherheitsbehörden vor genau solchen rechten Terrorgruppen im Untergrund. Doch das wollte lange kaum jemand hören – im Gegenteil: seine Mahnungen waren unbequem, er galt vielen als Nestbeschmutzer. Rückblickend sagt er: „Die Morde des NSU gehen auch auf die Kappe der Stadt Jena und der Stadtgesellschaft.“ Denn die Verantwortlichen hätten der erstarkenden Neonazi-Szene nichts entgegengesetzt, die passive Mehrheit der Bevölkerung habe sich ohnehin weggeduckt – „Mittel-Extremisten“, wie König es später in Bezug auf die bürgerliche Duldung der aufkommenden Pegida-Bewegung ausdrückt.  

Während die Mehrheit schwieg und wegschaute, scheute Lothar König keine Gelegenheit, gegen Nazis Position zu beziehen. Mit seinem VW-Bus, den er zu einem Lautsprecherwagen aufrüstete, fuhr er von Demo zu Demo durch die Republik, Gorleben, Heiligendamm, Proteste gegen Rechts in der ostdeutschen Provinz „und immer wieder Dresden, wo Rechtsextreme sich mit wohlwollender Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung längst festgesetzt hatten.“ Bundesweite Berühmtheit erlangte Lothar König, als die Staatsanwaltschaft Dresden gegen ihn ermittelte. Der Vorwurf: schwerer aufwieglerischer Landfriedensbruch.

Bei den linken Gegenprotesten 2011 gegen den damals noch recht großen und auch alljährlich stattfindenden Neonazi-Aufmarsch zum Jahrestag der Bombardierung von Dresden soll König zur Gewalt gegen die Polizei aufgerufen haben. Von seinem Lautsprecherwagen aus habe er den Gegenprotest mit Musik und Parolen über sein Mikrofon angestachelt. König bestritt die Vorwürfe von Anfang an, er habe im Gegenteil „auszugleichen versucht.“

König stand nicht zum ersten Mal vor Gericht, seit 1989 liefen allein im Zusammenhang mit Demonstrationen insgesamt zwölf Verfahren gegen ihn. Doch der Prozess in Dresden sollte als skandalöse Farce Schlagzeilen machen. Laut Verteidigung waren die Anschuldigungen gegen König konstruiert und basierten auf gefälschten Beweisen, die Polizei hatte Königs Verteidigung entlastendes Videomaterial vorenthalten, Polizeikräfte machten vor Gericht mutmaßlich Falschaussagen. Am Ende wurde das Verfahren eingestellt.

Dass er letztlich eine Auflage in Höhe von 3 000 Euro zahlte, wurmt Lothar König noch heute. Weniger als die Tatsache, dass er mit seiner Zustimmung der Einstellung „auch alle Polizisten praktisch freigesprochen hat“. Das Verfahren wurde für ein Jahr ausgesetzt – und vor Beginn der Neueröffnung habe die Staatsanwältin in einem Schreiben an seinen Verteidiger einen Vergleich angeboten, Einstellung des Verfahrens ohne Schuldspruch. „Ich saß in einer Falle“, meint König. „In dem einem Jahr hatte sich die Welt weitergedreht: in München lief der NSU-Prozess, in Dresden marschierte Pegida auf, in ganz Deutschland schnupperte die Neue Rechte – die ja nichts weiter als die Alte Rechte ist – Morgenluft. Es standen also ganz neue Herausforderungen an, als die ganze Kraft in einen „überholten“ Prozess zu stecken.“ Und so stimmte er schließlich der Einstellung zu. Für ihn „eine bittere Niederlage, bis heute“.

Mordaufruf einer Nazi-Band

König sagt, er habe einige Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, sich zu bewaffnen. „Was ist denn, wenn die Mehrheitsgesellschaft, allen voran die ‚Mittel-Extremisten‘, die Gefahr, die von militanten rechtsextremen Gruppen ausgeht, nicht mehr sehen will. Wenn sie, selber von der Gefahr nicht bedroht, solche Gruppen gar wohlwollend gutheißen und so diese mindestens unbewusst gutheißen? Was ist, wenn der Rechtsstaat mit seinen vielfältigen Einrichtungen in Justiz, Polizei bis in höchste politische Ämter und selbst in der Armee von solchen ‚Mittel-Extremisten‘ unterwandert und als solcher Rechtsstaat, immer weniger handlungsfähig ist?“

König ist kein Pazifist, für ihn ist jeder Mensch mit einer Gewaltfähigkeit ausgestattet und als Selbstverteidigung sei Gewalt legitim, betont König. Er wolle nicht der Gewaltlogik seiner Gegner folgen, denn wer zur Waffe greift, werde dadurch umkommen. Er zitiert aus Christa Wolfs Erzählung über die trojanische Königstochter Kassandra: „Wann Krieg ist, wissen wir, aber wann fängt er an?“ Für ihn bedeutet das: „Wann also ist noch Zeit, mit Argumenten gegen den Rechtsruck anzugehen, und wann ist auch diese Zeit vorbei?“

Die Schweizer Neonazi-Band „Erschießungskommando“ hat einen Liedtext veröffentlicht, der zum Mord an Lothar König und seiner Tochter Katharina König-Preuss aufruft. Das hinderte beide nicht daran, sich später in Thüringen gemeinsam gegen Neonazi-Konzerte einzusetzen. „Apropos“, setzt König an. „Ich hätte mal wieder Lust auf eine richtiges Punkkonzert. Da ist so viel Lust auf Leben.“ Nur einen Moment später sagt er: „Ich sehe kaum noch Chancen“, die multiple Dauerkrise umreißt er nur stichwortartig: „Klima, Umwelt, Krieg.“ Keinerlei Hoffnung? „Hoffnung ist ein Schindluder.“ Doch dann zitiert er Ton Steine Scherben: „Der Traum ist aus. Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“

Darf’s also doch noch etwas Utopie sein? „Ach, das sind so große Worte, so viel missbraucht und abgelutscht.“ Er hält es mit Antoine de Saint-Exupéry, der rät: „Wenn du ein Schiff bauen willst“, fange nicht mit ermüdenden Organisationsfragen an, „sondern weck unter den Leuten die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer.“ In dieser Parabel steckt für Lothar König alles drin: „Substanz, Realitätssinn, Selbstverantwortung, Engagement.“ Das sei das ganze Geheimnis. Und er selbst? Politisch werde er sich selbstverständlich weiter engagieren, „das geht mit meinem Grundverständnis von Leben, Glauben und Menschsein gar nicht anders.“ König fordert dazu auf, Gruppen zu bilden, appelliert an das Kollektive: „Das Gemeinsame, das ist es, was wir der Depression und diesem Untergang entgegensetzen.“  

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