Text: Mohamed Amjahid — Fotos: Thomas Pirot
Wenn der Staat nicht für Aufklärung sorgt und sogar selbst zur Bedrohung wird, wer schützt dann verletzbare Communities in diesem Land? Wer hilft von Rassismus, Polizeigewalt oder Rechtsextremismus betroffene Menschen und Gruppen dabei, sich selbst zu schützen, gegen Angriffe zu wehren, eigenständig für Aufklärung sorgen?
Schon wenige Monate nach dem rechtsextremen Attentat in Hanau am 19. Februar 2020 stellten sich die meisten Angehörigen genau diese Fragen. Sie hatten erleben müssen, wie ihre Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten, ihre Liebsten kaltblütig von einem bekennenden und auch den Sicherheitsbehörden bekannten Rechtsextremisten ermordet wurden. Schließlich mussten sie feststellen, wie die Ermittlungen im Land Hessen verschleppt und die Ausreden dafür immer absurder wurden. Die politisch Verantwortlichen begegneten den Angehörigen mit wenig Respekt – ja, sogar mit Demütigungen.
Die Sicherheitsbehörden behandelten sie nicht wie trauernde Angehörige, sondern teilweise wie Täter: Die Leichen wurden etwa ohne Zustimmung der Familien obduziert, Informationen flossen nach dem Anschlag nur spärlich; der ebenfalls rechtsextreme Vater des Attentäters bedrohte die Hinterbliebenen in Hanau. Doch anstatt die Angehörigen zu schützen, bekamen sie Anweisungen von der Polizei, sich doch bitte zurückzuhalten. Ex-Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) soll den Hinterbliebenen bei einem Gespräch versprochen haben, es „beim nächsten Mal“ besser zu machen. Drei Beispiele in einer langen Kette staatlichen Versagens.
Wer in Hanau nachfragt, hört im Rückblick häufig ein Wort: unerträglich. Deshalb entschieden die Angehörigen nur wenige Monate nach dem Attentat, die Aufarbeitung mit ihrer „Initiative 19. Februar“ selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollten nicht mehr auf Polizeipräsidien, Innenministerien, Parteien oder Untersuchungsausschüsse warten – und dort auch nicht länger als Bittstellende auftreten. Die Aufklärung sollte schnell, schonungslos und empathisch erfolgen. Die Familien beauftragten also die Rechercheagentur „Forensis“ in Berlin mit einer umfangreichen Aufarbeitung des Attentats und der Zeit danach.
„Forensis“ hat seinen Sitz in einem ehemaligen Industriegebäude im Stadtteil Kreuzberg. Hier wird gerade groß gebaut. Über Sand und Kiesel im Innenhof geht es in einen verwinkelten Bau mit hohen Decken und großen Räumen. Im Büro hängt ein Plakat mit den Gesichtern der neun Opfer von Hanau: Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi und Vili Viorel Păun.
Für die Aufklärung der rechtsextremen Morde arbeiteten sie hier monatelang ohne Pause, sichteten unzählige Dokumente, Lagepläne, Überwachungsvideos und Zeugenaussagen. Sie erstellten Sekundenprotokolle der Tatnacht und arbeiteten alles in einer Ausstellung auf, die im vergangenen Jahr im Frankfurter Kunstverein und im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen war. Zum dritten Jahrestag des Anschlags gastiert die Ausstellung nun auch für einige Wochen im Hanauer Rathaus.
Strategie des Verschleierns
„Forensis“ ist der Berliner Ableger der britischen Agentur „Forensic Architecture“, die von London aus mehrere internationale Recherchen mit wissenschaftlichen und journalistischen Methoden angestoßen hat – unter anderem zu syrischen Foltergefängnissen, den tödlichen EU-Außengrenzen im Mittelmeer oder Menschenrechtsverletzungen im Nahostkonflikt. Der rassistische Umgang von Staaten mit verletzbaren Minderheiten ist ein weiteres Thema, das sich das Rechercheteam um Gründer Eyal Weizman regelmäßig vornimmt.
Die Ergebnisse der Forensis-Recherche im Auftrag der Hinterbliebenen zeigen im Hanauer Fall peinliche bis fahrlässige und mutmaßlich intendierte Pannen auf, die die Ermittlungen belasteten und weitere Menschen aktiv in Gefahr gebracht haben. So fand „Forensis“ zum Beispiel heraus, dass ein Helikopter in der Tatnacht zwar über dem Stadtgebiet von Hanau kreiste – allerdings ziellos, weil den Piloten nicht mitgeteilt wurde, wo der Attentäter wohnte und sich verschanzt hatte. Wer tiefer in die Materie einsteigt, dem drängt sich der Eindruck auf, dass es den staatlichen Stellen hierzulande mehr um eine performative denn effektive Aufklärung ging und geht.
„Forensis“ wird von der griechischen Architektin Dimitra Andritsou und dem britischen Journalisten und Rechercheur Robert Trafford koordiniert. Die beiden empfangen in einem schnöden Besprechungsraum. Andritsou sagt, ihre Agentur verfolge das Ziel, das staatliche Monopol in der Forensik zu brechen: „Oft werden Informationen verschleiert, unangenehme Wahrheiten im Zusammenhang mit rassistischer Gewalt werden vertuscht. Deswegen wollen wir die Aufklärung von Attentaten wie in Hanau demokratisieren, den Betroffenen die Recherche-Instrumente zugänglich machen und so eine alternative, solidarische und auf Fakten basierende Forensik etablieren.“
Andritsou und Trafford lächeln, während sie von ihren monatelangen Erfahrungen mit den deutschen Sicherheitsbehörden erzählen. Es ist ein halb spöttisches, halb sorgenvolles Lächeln. Sie sprechen von einem staatlich organisierten Widerstand gegen jegliche Art von zivilgesellschaftlicher, aktivistischer oder journalistischer Aufklärung. „Forensic Architecture“ hatte vor Jahren schon mehrere verstörende Aspekte des Mords an Halit Yozgat durch den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) in Kassel und die Verstrickungen des Verfassungsschutzes aufgedeckt. „Ich wusste also, dass die Behörden in Hessen pikiert auf unsere Arbeit reagieren könnten“, sagt Robert Trafford.
Er erzählt im Zuge seiner Hanau-Investigation von Diskreditierungskampagnen der CDU in Hessen gegen Mitarbeitende von „Forensis“ und sagt: „Sie haben uns persönlich angegriffen, unsere Expertise infrage gestellt, anstatt mit uns über die Ergebnisse und die Grundlagen unserer Recherche zu sprechen.“ Dabei setze die Agentur auf maximale Transparenz, indem die Methoden der Recherche stets veröffentlicht werden. Als es dann soweit war und die Rechercheure Ende 2022 im Wiesbadener Untersuchungsausschuss geladen waren, um ihre Erkenntnisse zu teilen, hieß es in letzter Sekunde, dass sich die Abgeordneten aus rechtlichen Gründen doch nicht die zusammengetragenen Informationen anschauen dürften. „Das hätte ihnen Monate zuvor einfallen können, aber manchmal geht es halt darum, Zeit zu schinden und Aufklärung zu verhindern“, sagt Trafford.
Gewissenhafte Recherchen
Während sich der Staat also oft mit sich selbst beschäftigt, schreiten die Angehörigen und die von ihnen beauftragten Rechercheure mit stets hoher Geschwindigkeit immer weiter voran. In Hanau konzentrierte sich „Forensis“ vor allem auf zwei Türen: ein verschlossener Notausgang in der Arena-Bar, der mutmaßlich auf Anordnung der Polizei verriegelt wurde und damit aus der Bar eine tödliche Falle während des Anschlags machte; und eine nicht bewachte Hintertür im Haus des Attentäters, durch die er hätte gemütlich rausspazieren können, nachdem er dorthin geflüchtet war – obwohl die Polizei da schon alarmiert wurde.
„Die beiden Türen sind gute Beispiele für einerseits eine übertriebene Polizeiüberwachung von migrantischen Räumen und andererseits eine unzureichende Polizeiüberwachung von rechtsextremistischen Räumen“, fasst Robert Trafford zusammen. „Mehr als sechs Monate hat uns das Zusammentragen dieser Erkenntnisse gekostet“, ergänzt Dimitra Andritsou. Die Zeit aber war gut investiert. Denn genau diese strukturellen Defizite in der staatlichen Sicherheitsarchitektur möchte „Forensis“ mit seinen Analysen aufdecken.
„Uns geht es nicht nur um die Pannen, uns geht es um tiefgreifende Funktionsweisen des Staates, seine Komplizenschaft in verschiedensten Formen der Gewalt gegen Minderheiten“, sagt Andritsou. So beschäftigten sie sich im Rahmen der Ausstellung „Three Doors“ neben dem Attentat in Hanau auch mit dem Mord an Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeiwache und wie der deutsche Staat seitdem versucht, die Schuldigen in den Reihen der Polizei zu decken.
Diese pedantische Aufklärung ist aufwändig, teuer, kostet Zeit, Emotionen und schlicht auch Geld. „Forensis“ finanzierte sich wie die Schwesterorganisation „Forensic Architecture“ bisher zu einem großen Teil aus EU-Fördermitteln, projektbezogenen Spenden und auch aus Töpfen philanthropischer Organisationen, darunter zum Beispiel die „Open Society Foundations“ des ungarisch-stämmigen US-Milliardärs George Soros. Deswegen folgen auf die Recherchen oft verschwörungstheoretische Angriffe gegen die Agentur.
Andritsou erzählt, dass wissenschaftliche Analysen zur staatlichen Gewalt in Griechenland gegen Flüchtende stets heftige, nationalistische Reaktionen auslösen. Dann mischt sich Antisemitismus mit Rassismus und viel Desinformation. Hinter ihr im Besprechungsraum hängt ein für ihre Arbeit typisches langes, über die Breite der ganze Wand reichendes Plakat mit einem detaillierten Zeitstrahl, der den Mord an Mohammad Gulzar bei seiner Flucht in Griechenland aufzeigt. Nur eins von vielen Projekten, die längst vergessene Fälle wieder auf die politische, journalistische und aktivistische Agenda setzen. Es sind diese minutiösen Recherchen, teilweise in Kooperation mit anderen Agenturen und Medien, die die Arbeit von „Forensis“ so besonders machen.
Bei der obligatorischen Frage am Ende des Interviews, ob den beiden noch eine Information besonders wichtig sei, überlegt Dimitra Andritsou kurz, antwortet wenig später aber umso klarer: „Ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit liegt darin, dass die Angehörigen und Betroffenen meistens viel wissen, die Wahrheit längst kennen. Unser Job ist es, ihre Stimmen mit Recherche zu unterstützen und im Sinne der Aufklärung und der Selbstverteidigung zu verstärken.“ Die Hinterbliebenen in Hanau haben das erkannt und arbeiten weiter an ihrer eigenen Emanzipation – ganz im Sinne einer Aufklärung für alle.
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.