Text: Eva Goldschald — Fotos: Benjamin Jenak
Der rote Fiat Fiorino stottert. Nur langsam rollt er vom leicht abschüssigen Parkplatz auf die Hauptstraße, wo er beinah stehenbleibt. „Es geht schon, nur Geduld haben“, sagt Christfried Lenz, während er sich nervös mit seiner Hand über den Oberschenkel reibt. „So etwas geht nur hier im wilden Osten, woanders hätten sie längst von allen Seiten gehupt oder mich von der Straße gedrängt.“ Das Auto ruckelt über den Asphalt wie eine betagte Waschmaschine. Nirgends ein Auto, kein Mensch ist auf den Fußwegen unterwegs.
Lenz legt den ersten Gang ein, es rattert, er tritt aufs Gaspedal und der Motor jault, obwohl er den Zündschlüssel nicht umgedreht hat. Es sei der Keilriemen, der Probleme mache, deshalb müsse er ohne Zündung losfahren, erklärt er. Bei Regen sei das auch so, deshalb schaltet er selten das Licht an. Angst, dass ihn jemand übersieht, habe er aber nicht. Schließlich herrscht hier in der Altmark wenig Verkehr. Ein Grund mehr, weshalb der 78-jährige es überhaupt nicht verstehen kann, dass hier eine Autobahn gebaut werden soll.
Die Altmark, eine Region im Norden Sachsen-Anhalts, ist Christfrieds Lenz’ Zuhause. Sie teilt sich in den östlichen Landkreis Stendal und den Altmarkkreis Salzwedel. Insgesamt umfasst sie den Norden des Bundeslandes als Teil des Norddeutschen Tieflandes, das sich flach und trocken erstreckt. „Die Altmark versteppt“, fasst Lenz kritisch zusammen. „Das Wetter ist viel zu trocken, diesen Sommer hat es so gut wie gar nicht geregnet.“ Er zeigt aus dem Fenster auf die gelb verdorrten Wiesen. Sogar die Bäume würden hier vertrocknen „Und dann wollen die hier eine Autobahn bauen. Für wen? Hier fährt ja niemand.“
Aufgewachsen ist Christfried Lenz in einem Vorort von Frankfurt am Main. Vor etwa 18 Jahren zog er in die Altmark. Genau weiß er es heute nicht mehr. Im Ökodorf Sieben Linden wollte er damals lernen, mit einem möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu leben. Einige Zeit später kam er über das Gemeinschaftsprojekt an ein verlassenes Haus, etwa sieben Kilometer vom Dorf entfernt. Das Dach war intakt, doch es gab weder fließendes Wasser noch Heizung oder Toilette. Trotzdem kaufte er es für gerade einmal 4 000 Euro und zog direkt mit seiner Campingausrüstung ein. Insgesamt sechs Jahre dauerte es, bis das Haus für ihn fertig war.
Lenz fährt die Straße entlang durch den kleinen Ort Rittleben. Ein Dorf mit etwas mehr als 50 Einwohnenden zwischen Klötze und Apenburg-Winterfeld. Auf der linken Seite im Feld steht eine große Biogasanlage, auf der rechten Seite vertrocknete Felder, eine triste Landschaft, die sich an diesem Tag in Nebel hüllt, düster und verlassen aussieht. Er biegt nach rechts in die Dorfstraße ein. Sie wird von nur wenigen Häusern gesäumt. Blumen wachsen hier keine, dafür gibt es vor fast jedem Haus einen Steingarten. Am Ende der Straße hält der rote Fiat vor einem alten Trafo-Turm. „Wir sind da“, sagt Lenz, während er schon die Fahrertüre öffnet.
Links neben dem Turm steht ein altes Fachwerkhaus inmitten eines großzügigen Geländes. Durch den gesamten Garten schlängelt sich eine Kürbispflanze, überall blitzen kleine und große orangefarbene Kürbisse hervor. Sie bedecken den Weg bis zur Haustüre. An der Hauswand stehen Tomatenstauden und ein Strauch mit Chillis in lila, rot, orange und gelb.
Vom Außenseiter zum Vorbild
Als Christfried Lenz hier einzog, sei der der ganze Platz voll mit Müll gewesen, erinnert er sich. Die umliegenden Anwohnenden und auch die, die weiter weg wohnten, entsorgten hier alles – von Hausmüll bis hin zu altem Werkzeug. „Das war denen nicht zu blöd, extra hierher zu fahren, obwohl bei uns der Müll einfach kostenlos vor der Haustür abgeholt wird. Einmal was Gutes im System, diese Müllentsorgung, und dann wird sie nicht genutzt.“ Lenz schüttelt den Kopf und zeigt auf eine große Pappel, die im hinteren Teil des Gartens steht. „Die ist an der Baumkrone ganz schön vertrocknet, aber es geht ihr sonst noch ganz gut“. Er stemmt die Hände in die Hüften und schaut gespannt nach oben. Sein schütteres Haar wirft er dabei lässig nach hinten. „Da oben eröffnet sich eine ganz andere Welt, so viel Leben, Wahnsinn.“
Seit 2013 ist Christfried Lenz zu 100 Prozent Strom-Selbstversorger. Sein Wasser wird mit einer Solarthermieanlage erwärmt, Strom kommt aus der Photovoltaikanlage auf dem Dach. Acht Batterien speichern den Strom, sodass er auch nachts und an sonnenlosen Tagen Licht hat und am Computer arbeiten kann. Im Winter bezieht er Totholz aus dem Wald, das er dem Förster abkauft. Damit befeuert er seinen Heizungskessel.
Der Garten ist sein persönlicher Supermarkt. Die vielen Kürbisse, Äpfel und Birnen kocht er ein, sie reichen bis ins nächste Jahr. Dann gibt es da noch Bohnen, allerlei Kräuter, Kohl und Salate. Was nicht im Garten wächst, kauft er im Bioladen. Am liebsten wäre es ihm, er würde auch sein Frischwasser aus dem hauseigenen Brunnen mit einer Pumpe fördern. Den hat er selbst entdeckt und von Hand über Tage hinweg ausgegraben. Doch das ist rechtlich nicht möglich. Also wurde eine Leitung gelegt, die der Rentner seitdem monatlich abbezahlt.
„Als ich nach Rittleben kam, waren alle skeptisch. Ich war für die Leute wie einer vom anderen Planeten. Kam da mit meiner Campingausrüstung an und holte mit meinem Kanister anfangs Frischwasser aus dem Ökodorf.“ Nur der direkte Nachbar hätte sich gleich für ihn interessiert. „Der fand gut was ich machte und war dann wie ein Botschafter für das ganze Dorf. Anfangs sprach niemand anderes mit mir“, erzählt Lenz. Erst als er mit dem Haus fertig war, kamen die Menschen aus der Nachbarschaft und gratulierten ihm. Heute ist das, was er geschaffen hat sein Lebensinhalt. Auf Versammlungen der Bürgerschaft tritt er als Paradebeispiel für einen autonomen Lebensstil auf. Er ist Sprecher der Bürgerinitiative Saubere Umwelt und Energie Altmark und war Mitglied des Gründungsvorstands der BürgerEnergieAltmark eG.
Getrieben von großer Neugier
Christfried Lenz ist ein Lebenskünstler. Über seine Stationen im Leben könnte er ein Buch schreiben. An dieser Stelle muss ein kurzer Überblick reichen: Nach dem Abitur ging er nach Heidelberg, wo er Theologie und Musikwissenschaft studierte. Ersteres aber nicht, um Pfarrer zu werden, sondern um das Christentum wissenschaftlich fundiert kritisieren zu können. Als er dies erreicht hatte, brach er es ab. Das Musikstudium schloss er hingegen vollständig mit Doktortitel ab. Sein liebstes Instrument ist die Orgel, die er auch abends Zuhause noch spielt.
Obwohl es Lenz gewohnt ist vor Menschen zu sprechen, gehört das Orgelspiel zum Privaten: „Ich kann derzeit nicht öffentlich spielen, da ich mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt und dann auch nervös bin.“ In früheren Jahren gab er Konzerte im In- und Ausland und wirkte bei Schallplattenaufnahmen mit. Einen festen Plan für sein Leben jedoch hatte er nie. Er wollte es „einfach gut, frei und selbstbestimmt“ gestalten. Während einer zweijährigen Segelreise mit seiner damaligen Freundin erkundete er das Mittelmeer und die Ägäis. Durch diesen direkten Kontakt mit den Elementen entschloss er sich, fortan ein nachhaltiges Leben zu führen.
„Damals haben die Fischer von Elba ihr Wetter nicht mehr verstanden“, sagt Lenz. „Früher hätte der Wind immer regelmäßig geweht, sie konnten quasi auf die Minute voraussagen, wann er wieder aufhört. Doch irgendwann war der Wind anders, er wehte immer weiter, viel stärker. Da wurde deutlich, dass sich etwas gravierend am Klima ändert.“ Nach der Reise verschlug es ihn auf einen Campingplatz in Freiburg. Dort hielt er sich mit handwerklichen Arbeiten über Wasser, ehe er sich entschloss nach Sieben Linden zu gehen. „Das war das einzige Mal, dass ich ausschließlich arbeitete, um Geld zu verdienen. Ansonsten habe ich immer aus Überzeugung und Spaß gearbeitet“, erzählt Christfried Lenz.
Viele seiner Stationen ergaben sich aus reiner Neugier. So arbeitete er für 14 Jahre bei der Müllabfuhr, nur weil er wissen wollte, wie sich das Leben als Arbeiter anfühlt. Als bekennender Kommunist ist er überzeugt, dass der Wandel der Welt in der Arbeiterklasse stattfindet. Über seine Zeit bei der Müllabfuhr erschien 1984 sogar ein Buch: „Kein Pech, Arbeiter zu sein“.
Christfried Lenz sitzt wie ein junger Akrobat im Schneidersitz auf seiner selbstgebauten Holzbank in der Küche. Immer wieder steht er auf, dehnt sich und stemmt dabei abwechselnd eine Fußsohle gegen die Innenseite seines Oberschenkels. Es sieht aus als mache er Yoga. Damit habe er aber nichts am Hut, wie er sagt, das sei ihm zu langweilig. Der 78-Jährige hält sich stattdessen mit seinem Haus fit. Es gäbe schließlich immer etwas zu tun.
Das ganze Leben ungebunden
Die Küche bildet den Mittelpunkt seines Häuschens. Hier drin steht der Ofen, mit dem der Rentner im Winter heizt – und von hier steuert er seine Photovoltaik- und die Solarthermie-Anlage. Überall blitzen Kabel aus den Wänden hervor. Manche würden das Haus immer noch als Baustelle bezeichnen, für Christfried ist es gut so, wie es ist.
Die Küche hat er selbst gezimmert, die Fliesen im Bad sind Restbestände von Sanitärfirmen. Keine gleicht der anderen, alle sind unterschiedlich groß und wie in einem Mosaik aneinander gesetzt. Eine klassische Raumaufteilung fehlt. In nahezu jedem der Räume im Erdgeschoss steht ein Bett oder eine Couch. „Mein Haus war oft ein Durchgangsstation für Menschen, die nach Sieben Linden wollten. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr dazu, dass sich Fremde hier ausbreiten. Ich mag es, meinen eigenen Rückzugsort zu haben. Aber wenn es jemanden gäbe, mit dem ich gut zusammenleben könnte, würde ich nicht nein sagen.“ Immer wieder dachte er darüber nach, ob er nicht „komisch“ sei. Der Mensch sei ja ein soziales Wesen und er lebe schon lange alleine: „Über meine Tätigkeiten und Funktionen in der Energiewende-Szene habe ich mit so vielen Leuten zu tun, dass ich froh bin, zu Hause allein zu sein.“
Für ein konventionelles Leben mit Heirat und Familie habe Lenz nie viel übrig gehabt. Sein Vater war Pfarrer, die Mutter Hausfrau. Er war das jüngste von insgesamt fünf Kindern. Die Geschwister waren zwölf bis 18 Jahre älter als er. Schon früh bekam er mit, dass seine Mutter nicht glücklich war, aber trotzdem blieb. Auch bei den Geschwistern verliefen die Ehen nicht so, wie sie sollten. „Ich habe sehr früh erkannt, dass das alles Schwachsinn ist, den ich nicht nachzumachen brauche“, sagt Lenz. Als Organist habe er auf vielen Trauungen gespielt und dabei immer wieder über die Floskel „Bis dass der Tod euch scheidet“ nachgedacht.
„So etwas kann doch niemand guten Gewissens versprechen! So starten die automatisch mit einer Lüge in die Ehe. Mit viel Glück entwickeln sich beide in die gleiche Richtung. Das ist aber ziemlich selten. Die Spannung lässt nach und irgendwann wird einer unglücklich. Kinder wollte ich ohnehin nie. Da wäre ich zu gebunden gewesen, hätte immer Verantwortung gehabt. Ich hätte mein Leben mit Kindern sicher nicht so intensiv gelebt wie ohne“, ist Lenz überzeugt.
Auch wenn er nie das Leben seiner Eltern hätte führen wollen, hat ihm eines bis heute stark imponiert: Als einziger Pfarrer in Hessen verweigerte sein Vater den Eid auf den Führer. Damit ging sein Vater ein großes Risiko ein. „Vor dem Pfarrhaus demonstrierten die Leute aus dem Dorf, beschimpften ihn als Vaterlandsverräter. Einmal wurde er für 14 Tage eingebuchtet, kam aber wieder zurück. Seine Kinder ließ er nicht zur Hitlerjugend gehen. Für seine politischen Aussagen in seinen Predigten hätte er locker ins KZ kommen können. Seine streng lutherische Erziehung fand ich nicht so toll, aber seinen Willen und die Bereitschaft, für die eigenen Werte einzustehen, und wie er uns das vorgelebt hat, dafür bin ich unendlich dankbar.“
Großprojekte für Klimaschutz
Nachhaltigkeit hatte in Christfried Lenz’ Leben schon immer einen Stellenwert. Irgendwann merkte er, dass Spenden für Greenpeace nicht ausreichen. Weil sich das Klima von „bloßem Geschwätz auch nicht abkühlt“, entschloss er sich, selbst aktiv zu werden. 2010 begann sein Aktivismus in der Bürgerinitiative „Kein CO2-Endlager Altmark“. Dabei konnten er und andere Aktive die beiden Weltkonzerne Gaz de France und Vattenfall daran hindern, in der Altmark CO2 zu verpressen, das per LKW über mehr als 300 Kilometer vom Kraftwerk „Schwarze Pumpe“ im brandenburgischen Spremberg in die Altmark geschafft werden sollte. Die für etwa acht Millionen Euro errichtete Verpressungsanlage wurde 2015 wieder abgebaut, ohne je in Betrieb gegangen zu sein. Gemeinsam mit der „BürgerEnergieAltmark eG“ hatte Lenz auch einen Solarpark auf der Industriebrache Salzwedeler Chemiewerk mit geschaffen.
Sein intensivstes Projekt sei derzeit aber der Silbersee in Brüchau, eine der gefährlichsten Giftmülldeponien Sachsen-Anhalts. In dieser undichten Grube befinden sich zig Tonnen Quecksilber, Erdgashinterlassenschaften und andere Gifte aus DDR-Zeiten, die seither das Grundwasser verschmutzen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten kämpft Lenz inzwischen seit sieben Jahren für die Auflösung dieser Grube. In mehreren Verfahren konnten er und seine Mitstreitenden die Politik überzeugen. 2020 beschloss der Landtag einstimmig, dass die Grube ausgebaggert werden und ihr Inhalt auf anderen Deponien ausgelagert werden muss.
Passiert sei seitdem allerdings nichts: „Den Auskofferungsplan hat die Firma im Juli diesen Jahres wie angeordnet vorgelegt, aber die lassen sich ein Hintertürchen offen“, meint Lenz. „Wenn sie keine geeigneten Deponien finden, steht das Projekt wieder an.“ Aufgeben werde er trotzdem nicht. Dafür hänge er schon „zu tief drin.“
Menschen, die Wert auf Materielles legen, können häufig nicht nachvollziehen wie Lenz lebt: abgeschieden, auf das Nötigste reduziert. „Ich versuche alles in meiner Macht Stehende zu tun. Optimistisch bin ich nicht, aber es können Dinge passieren, mit denen niemand rechnet. Ich halte mich da an die Geschichte mit den Fröschen im Milchglas: Zuerst strampeln beide, um aus dem Glas zu entkommen. Einer gibt schließlich auf und ertrinkt, der andere strampelt weiter, bis die Milch zu Butter wird. Jetzt hat er festen Boden und springt aus dem Glas.“
Lenz wünscht sich, dass alle Menschen „zu strampeln“ beginnen. So wie der Frosch und so wie er. Der Selbstversorger, der die Dinge selbst regelt, ohne auf die Regierung zu warten. So handhabt er es zum Beispiel auch mit der überschüssigen Energie, die seine Photovoltaik-Anlage erzeugt. Damit sie nicht verloren geht, hat er sich ein Elektroauto zugelegt. Mit dem fährt er immer, wenn er alleine unterwegs ist und nichts transportieren muss. Es geht nicht schneller als 60 Kilometer pro Stunde und ist so leise und leicht, dass er damit förmlich über den Asphalt schwebt. Eine Autobahn braucht er dafür schon gar nicht.
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