Text: Eva Goldschald — Foto: Lisa Mader
Ein Spätsommertag in einem Industriegebiet im oberbayerischen Freilassing, gelegen nahe der deutsch-österreichischen Grenze. Die Luft ist warm und trocken. Aus einer Halle tönt ein lautes und tiefes Bellen. Durch den Gitterzaun, der die Eingangstür versperrt, späht ein großer, schwarzer Schäferhund. „Keine Angst“, ruft jemand eilig von drinnen, „das ist Paco, mein Dorfpolizist.“ Aus dem Dunkeln der Halle tritt eine großgewachsene Frau mit breitem Grinsen und langen blonden Haaren. Sie tätschelt den Kopf des Hundes, der ihr bis an die Hüfte reicht. „Wenn ich mit dem spazieren gehe, dann passiert mir nichts, da weichen alle aus“, erzählt die Frau, die Sabine Ittmann heißt.
Als sie noch ein Kind war, erzählt sie, brachte sie manchmal verletzte Mäuse und Vögel mit nach Hause oder sammelte Kröten von der Straße ein. Und schon immer schlug ihr Herz für Tiere lauter als für die Menschen. Heute bestimmt die Tierliebe das gesamte Leben der 53-Jährigen. Beinahe Tag und Nacht kümmert sich Ittmann ehrenamtlich um Straßenhunde aus Bosnien. Mindestens dreimal in der Woche ist sie im Hauptquartier der „Ankerhunde“. Hier kommen die Tiere an und werden ihren neuen Familien übergeben. Die Mitte des Raumes füllt ein großes Gehege aus, unzählige Hundefutter-Konserven sind auf Paletten gestapelt. Gleich nebenan findet jeden Sonnabend ein Flohmarkt statt, um Spenden zu sammeln.
Den Verein „Ankerhunde“ hat Sabine Ittmann 2019 gemeinsam mit den beiden Schwestern Tiziana und Juliana gegründet. „Ich wollte immer schon helfen. Aber nur Geld spenden, das reichte mir nicht. Stattdessen wollte ich genau wissen, wo meine Hilfe ankommt und selbst Verantwortung übernehmen“, sagt die Oberbayerin. Sie sitzt auf einem grauen Ohrensessel, Paco liegt direkt an ihren Beinen. Auf der Couch nebenan macht es sich Libby gemütlich. Die dreibeinige, rehbraune Mischlingshündin aus Bosnien lebt seit inzwischen sechs Wochen als Pflegehund bei Ittmann. „Ich bin eine Pflegestellenversagerin“, meint Ittmann und lacht.
Normalerweise bleiben die Hunde nicht länger als zwei Monate bei ihr, ehe sie in ein neues Zuhause kommen. Bei Paco hat das nicht geklappt, Libby aber möchte sie weitervermitteln, auch wenn die Tierschützerin weiß, dass wieder Tränen kullern werden. „Ich hatte schon 18 Pflegehunde und bei jedem fiel mir der Abschied unglaublich schwer. Wenn Libby bleiben würde, würde ein Pflegeplatz fehlen, denn für drei Hunde habe ich keine Kapazitäten.“
Nach Bosnien kam Sabine Ittmann zum ersten Mal vor gut fünf Jahren durch die Arbeit bei einem anderen Verein. Dieser wollte vor Ort jedoch nicht helfen, weil das Land nicht Teil der EU ist. Als Drittland herrscht bei der Einfuhr nämlich eine dreiwöchige Quarantänepflicht – erst danach dürfen die Hunde in die EU weiterreisen. Für einen Hund kostet das acht Euro am Tag. Die Fahrt nochmal 250. „Mit Papieren sind das gut 350 Euro pro Hund und dann ist der noch nicht geimpft oder kastriert. Für Vereine bleibt also kein Geld übrig, weshalb nur wenige Freiwillige in Bosnien helfen möchten“, beschreibt Ittmann die Situation.
Anderes Verhältnis zu Tieren
Den ersten Hundekontakt in Bosnien hatte Ittmann auf einer Mülldeponie. „Wenn ich die Geschichte erzähle, habe ich immer einen richtigen Kloß im Hals.“ Ittmann schluckt, setzt sich kurz auf und atmet einmal tief durch. Beim Lachen werden ihre Augen kleiner und glasig. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Hunde auf einer Mülldeponie leben. Als wir ankamen, krochen sie aus jedem erdenklichen Eck hervor. Und als unser Auto anhielt, waren wir umgeben von einer Traube aus Hunden mit wedelnden Schwänzen. Sie wollten kuscheln und wären am liebsten in uns hineingeschlüpft. In dem Moment war mir klar, dass ich wiederkommen und helfen muss. Überhaupt wegzufahren, ist mir schwer gefallen.“
Tatsächlich war dies der erste erfolgreiche Einsatz in Bosnien, denn alle elf Hunde konnten die Frauen damals an Familien vermitteln. Am liebsten wäre Sabine Ittmann dort geblieben, hätte weiterhin direkt auf der Straße geholfen. Allerdings muss jemand den Bürokram in Deutschland erledigen, den Basar und die Pflegestellen organisieren und ansprechbar sein.
In Bosnien werden Hunde nicht automatisch auf der Straße geboren. Oft stammen sie aus Familien und wurden ausgesetzt, weil sie alt, krank oder einfach nicht gut genug als Wach- oder Jagdhund waren. Deren Vermittlung ist nicht automatisch tiergerecht oder notwendig. „Viele Tiere muss ich auf der Straße lassen, denn nicht alle brauchen auch ein Zuhause bei Menschen. Wer gut genährt ist, ein Halsband trägt oder nach einer kurzen Streicheleinheit wieder geht, überlebt gut ohne uns. Hunde in Bosnien dürfen eigentlich nie ins Haus, sie leben höchstens im Garten. Die meisten Menschen lassen ihre Hunde raus, sobald sie das Haus verlassen und versorgen die Tiere, wenn sie abends zurückkommen. ‚Haustier‘ hat dort eine ganz andere Bedeutung als bei uns“, weiß Sabine Ittmann.
„Wir helfen Tieren, die von Artgenossen attackiert werden, die krank oder verletzt sind. Wir kastrieren und versorgen sie. Erst dann entlassen wir sie wieder auf die Straße oder suchen nach einem passenden Zuhause.“ Doch im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen vermitteln Ittmann und ihr Team die Tiere nicht von der Straße ins Wohnzimmer. Nach einer ärztlichen Untersuchung und der Quarantäne nimmt der Verein die Hunde erstmal selbst bei sich auf. In Bayern werden sie sozialisiert, an die Leine gewöhnt und beobachtet. „Wir kennen jeden der Hunde, wissen genau, in welche Umgebung welche Persönlichkeit passt und wie sie auf bestimmte Reize reagieren. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn in den neuen Familien etwas passieren würde. Schlussendlich bleibt es aber immer ein Tier.“
90 Prozent der „Ankerhunde“ vermittelt Ittmann über Facebook und noch bevor die Tiere in Deutschland ankommen. Auch über ihre Statusmeldungen bei WhatsApp werden Menschen auf die Hunde aufmerksam. Die übrigen kommen zu Pflegefamilien. Seit dem 31. Dezember 2014 dürfen Welpen nur noch mit einer gültigen Tollwutimpfung nach Deutschland reisen. Weil die aber erst ab der zwölften Woche möglich ist und der Schutz auch erst 21 Tage nach der Impfung wirksam wird, reisen Welpen niemals früher nach Deutschland ein.
Klare Regeln bei Vermittlung
Wer einen Hund über Sabine Ittmanns Verein bei sich aufnehmen möchte, muss vorab eine gründliche Kontrolle bestehen. Mitarbeitende überprüfen das potenzielle Zuhause und ob der Hund zur Familie passen könnte. Eine große Rolle spielt dabei auch der Tagesablauf. „Im Normalfall kann ein erwachsener Hund gut sechs Stunden alleine bleiben. Wer aber Vollzeit arbeitet, fliegt automatisch raus, außer es gibt eine alternative Betreuung“, erklärt Ittmann.
Vor allem während der Corona-Pandemie nahmen viele Menschen einen Hund bei sich auf, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Wer später wieder vom Home Office ins Büro wechselte, hatte oft nicht mehr genug Zeit, sich zu kümmern. Während der Pandemie erhielt Ittmann viele Anfragen, die sie direkt ablehnte. „Weil wir so genau kontrollieren, gibt es bei uns fast keine Rückläufer, außer jemand erkrankt zum Beispiel unerwartet.“ Der Verein bietet an, Hunde zur Pflege aufzunehmen, um zu schauen, ob es passt. „Die Leute geraten so nicht unter Druck. Sie müssen die Schutzgebühr von 490 Euro zwar bezahlen, erhalten diese aber wieder zurück, wenn es mit dem Hund nicht klappt – allerdings erst dann, wenn wir für das Tier ein neues Zuhause gefunden haben.“
Laut Verband für das deutsche Hundewesen stammen ein Fünftel aller Hunde, die jährlich in Deutschland vermittelt werden, aus dem Ausland. Das sind gut 100 000 Tiere. Wie viele aus Bosnien kommen, ist jedoch nicht bekannt. Bei Ittmann sind es etwa 600 Tiere. Sie und ihr Team kümmern sich konkret um Hunde im Ort Odžak. Die Stadt im Nordosten Bosniens liegt nur gut zehn Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Seitdem der Verein unterstützt, hat sich die Lage deutlich verbessert. „Als wir vor vier Jahren begonnen haben, gab es sehr viele Straßenhunde. Heute sehen wir hier und da mal einen, es sind aber deutlich weniger.“
In den anliegenden Dörfern hingegen passiere wenig. Sobald dort ein Fest anstehe, würden die Straßen gereinigt. „Die Hunde werden dafür eingesammelt und ins nächste Dorf gekarrt, meist nach Odžak, weil die Einwohnenden wissen, dass sich jemand von uns um die Hunde kümmern wird.“ Zwar finde in der Bevölkerung langsam ein Umdenken statt, trotzdem seien die Tiere nur wenig wert. „Selbst wenn jemand tierlieb ist und helfen möchte, die Menschen haben einfach kein Geld“, so Ittmann. 60 Euro für eine Kastration oder 15 für den Hundechip könne und wolle sich kaum jemand leisten. „Wenn ich den Menschen dort nicht helfe, wird es nicht besser. Deshalb unterstützen wir nicht nur mit Spenden, sondern klären auch auf.“
Geschockt war die Tierschützerin von der Empathielosigkeit gegenüber Tieren. Hunde seien nur selten der beste Freund des Menschen, sondern erfüllten eher einen Zweck. „Die Kinder kümmern sich oft heimlich um Hunde, weil ihre Eltern ihnen beibringen, dass Hunde dreckig und es nicht wert sind, ihnen zu helfen. Als wir angefangen haben, wurden wir regelrecht angefeindet. Mittlerweile kommen Menschen auf uns zu und bitten um Hilfe.“
Handel mit illegalen Welpen
Sabine Ittmann hat in Bosnien schon einiges gesehen. Hunde, die an Autos gebunden und nachgezogen wurden, bis sie starben. Hunde, die an Bäumen aufgehängt wurden oder auch welche mit abgehackten Beinen. Illegaler Welpenhandel nach Deutschland finde in Bosnien kaum statt. Trotzdem gäbe es Menschen, die wenige Tage alte Welpen für fünf Euro auf dem Markt verkaufen. „Ich darf es ihnen nicht verübeln. Sie versuchen, Geld zu verdienen. Und so schwer es uns dann auch fällt, wir dürfen ihnen die Hunde nicht abkaufen. Sonst würden wir deren Geschäft antreiben“, sagt Ittmann. Hunde, die nicht verkauft werden, landen bei den Mülltonnen, sobald der Markt vorbei ist. In solchen Fällen bekommt Ittmann einen Anruf vom Marktbetreuer. Dann können sie die Welpen abholen. Viele überleben jedoch nicht.
Innerhalb der EU, sagt Ittmann, sei mit Hunden aus dem Ausland gutes Geld zu verdienen. „Wer sich die zehn schönsten Welpen wegnimmt, impft und gleich vermittelt, erhält schon seine 500 Euro für einen Hund. Wer aber echten Tierschutz betreibt, wird jeden Monat um jeden Cent kämpfen müssen“, fasst Sabine Ittmann zusammen.
Zu Beginn ihrer Arbeit in Bosnien konnte die Tierschützerin nie richtig schlafen. Sie wollte Tag und Nacht helfen und es fiel ihr schwer, Tiere zurückzulassen. „Als ich wieder Zuhause war, entwickelte ich einen richtigen Hass auf die Menschen in meinem Umfeld. Ich arbeite in Teilzeit in einem Autohaus. Das kam mir sehr sinnlos vor. Menschen, die sich beschwerten, dass die Werkstatt doch noch länger braucht, machten mich aggressiv. Genauso jene, die sich über Paketlieferungen beschweren, die nach 24 Stunden noch nicht da sind. Das sind doch Luxusprobleme, oder? Ich wurde teilweise richtig böse“, erinnert sich Sabine Ittmann. „Niemand freut sich heute mehr über die kleinen Dinge: Schmetterlinge auf Blüten oder der Vogel im Garten, der in der Wasserschale badet.“
Seitdem sich Ittmann auch Zuhause mehr mit der Vereinsarbeit beschäftigt, beschreibt sie ihr Leben als erfüllter. Und alle drei Wochen fährt sie mit ihrem weißen Sprinter, der bis oben hin mit Hundefutter gefüllt ist, nach Bosnien. Meist für drei Tage. Verändert habe sich über die Jahre der Umgang mit ihren Mitmenschen. „Auch wenn die Menschen in Bosnien nicht viel für die Tiere übrig haben, bewundere ich ihre Zufriedenheit und ihren Minimalismus. Das materialistische Denken unserer Wegwerfgesellschaft stößt mir dagegen sauer auf.“
Wie viele Stunden Sabine Ittmann jedes Jahr insgesamt für den Verein arbeitet, kann sie nicht sagen. Aber es sei ihr auch egal, selbst dann, wenn es zehn Stunden am Tag sind, für die sie keinen Cent bekommt. „Das würde ich in meiner Erwerbstätigkeit nie tun. Die Arbeit mit und für die Tiere tut meiner Seele gut und ich werde reich mit dem, was ich in mir habe.“
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