Text: Fabian Dombrowski — Fotos: Katrin Binner
Das Unspektakuläre zuerst: ein Gewerbegebiet am Rande von Köln-Ehrenfeld. Malerbetrieb, Gebäudereinigung, Fahrradladen. Weiße, containerartige Häuser. Grauer Himmel, Temperatur unter fünf Grad. Der schier unaufhörliche Nieselregen wird sich später am Tag noch in dicke Schneeflocken verwandeln. Maurice Conrad ist das komplette Gegenteil zu dieser farblosen Szenerie – und dennoch hat Conrad samt Kollegium genau hier ein neues Büro gezogen. Im Team arbeiten sie an einer Software für Mediengestaltung. Aber das ist längst nicht alles.
Maurice Conrad, 22, nicht-binär, hat sich vorgenommen, vieles, was etabliert oder stereotyp zu sein scheint, aufzumischen, bunter, schriller, anders zu machen: die Mainzer Lokalpolitik, den deutschen Rap, die Klimabewegung. Maurice Conrad führt ein Leben irgendwo zwischen kompromisslosem Aktivismus und den langsamen Mühlen städtischer Verwaltung, zwischen künstlerischer Freiheit und den klaren Regeln der Mathematik.
Im bauchfreien T-Shirt führt Maurice Conrad durch die neuen Büros, ein Rest Kartoffelgratin steht noch auf dem Tisch, im Regal liegt eine Trump-Maske. Über einer Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln prangt das blaue Logo der Firma. Begonnen hatte alles 2015, als neben der freien Waldorfschule in Wiesbaden, die Maurice Conrad damals besucht hatte, Geflüchtete in einen Container einzogen. Gemeinsam mit anderen Kids begann Maurice Conrad, die geflüchteten Menschen zum Beispiel mit Deutschunterricht zu unterstützen.
„Ich habe das damals gar nicht als politisch betrachtet“, erinnert sich Maurice Conrad. „Dann ist mir aber aufgefallen, dass das ein total politisches Thema ist, weil viele Leute ein Problem mit der Aufnahme von Geflüchteten hatten. Und mir wurde klar, dass ich mich dafür einsetzen muss, dass in Deutschland – überspitzt formuliert – nicht die gleichen Leute mit den gleichen Parolen durch die Straßen marschieren wie 1933.“ Maurice Conrad schloss sich daraufhin der Seebrücke an, einem Bündnis, das sich für die Seenotrettung im Mittelmeer einsetzt.
Das politische Bewusstsein wuchs, doch die Bundestagswahl kam für Maurice Conrad damals zu früh. „Das hat mich total gefuchst. Ich fand es unfair, dass ich mit 17 vom Wahlrecht ausgeschlossen wurde.“ Conrad wollte wenigstens in eine Partei eintreten – und entschied sich, nach gründlichem Lesen der Programme, für die Piratenpartei. „Es ging mir gar nicht darum, was ich dort konkret erreichen kann, ich folgte eher meiner Intuition.“
Was auffällt: Maurice Conrad nimmt damals, als adoleszente Person, nicht nur die eigenen, vagen Bauchgefühle wahr, sondern folgt ihnen auch – mit Offenheit, Pragmatismus, Mut. Die Geschichte mit Fridays for Future ist eine ganz ähnliche: 2018 wurde die drohende Rodung des Hambacher Forsts in Nordrhein-Westfalen zum Symbol der Anti-Kohle-Bewegung. Und wieder folgte Maurice Conrad weniger einem aktivistischen Gedanken, sondern vielmehr einem Impuls. „Das Universum hat mir gesagt: Ich muss da jetzt hin und mir vor Ort ein Bild machen. Aber das Bedürfnis, Klima-Aktivismus zu machen, hatte ich gar nicht.“
Zum damaligen Zeitpunkt steckte die Bewegung mitten in den Planungen für ihren ersten großen Klimastreik in Deutschland. Maurice Conrad stieß im Moment der bundesweiten Vernetzung zu Fridays for Future. Am 18. Januar 2019 gingen in mehr als 50 deutschen Städten junge Menschen auf die Straße. Conrad war in Mainz vorne mit dabei – gemeinsam mit knapp 2 000 Menschen, die dem Aufruf gefolgt waren. Eine Größenordnung, die Conrad selbst überrascht hatte. „Wir haben Protest wieder cool gemacht“, erklärte Conrad damals.
Mit den Piraten in die Politik
Maurice Conrad sitzt auf einem der vielen Sofas, spricht konzentriert und manchmal auch so schnell, dass die Zunge nicht hinterherkommt. Die Hände unterlegen das Gesagte gestisch. Die Mainzer Piratenpartei, sagt Conrad, sei damals vor allem eine Stammtischrunde gewesen: Männer über 50, die auf alte Zeiten zurückblickten. Doch bei der Stadtratswahl 2019 setzten sie Maurice Conrad an die Spitze – und hatten Erfolg. Direkt nach dem Abitur wurde Maurice Conrad jüngstes Stadtratsmitglied aller Zeiten. Allein wegen des Alters wurde Maurice Conrad von Anfang an sehr kritisch beäugt. „Die hatten alle schon eine Karriere in anderen, seriösen Parteien, mit seriösen Delegierten und seriösen Mitgliedervoten. Und auf einmal kam ich.“
Medial wurde das neue Ratsmitglied der Piratenpartei schnell als „Paradiesvogel“ und „Exot“ abgestempelt – ein Image, das Maurice Conrad auch selbst geschickt füttert. Conrad gründet im Stadtrat eine Zwei-Personen-Fraktion mit Volt, hält Reden im violetten Anzug und bringt die festgefahrenen Abläufe in der Mainzer Verwaltung häufig durcheinander. „Ich wollte auch auffallen“, so Conrad. „Ich wollte zeigen, dass ich nicht die klassische Lokalpolitik verkörpere. Aber Lokalpolitik ist anders getaktet als Aktivismus – das habe ich schnell gemerkt.“
Um das Thema Klimaschutz noch stärker auf die Agenda zu setzen, gründete Maurice Conrad zur Landtagswahl 2021 die Klimaliste Rheinland-Pfalz, um die gesammelten Erfahrungen aus Piraten, Kommunalpolitik und Aktivismus zusammenführen. 20 Direktkandidierende stellte die Klimaliste schließlich auf, allesamt sorgfältig ausgewählt aus den Bereichen Wissenschaft und Aktivismus. Das Wahlergebnis: 0,7 Prozent. „Am Ende war es mir wichtiger, ein vorzeigbares Team zu haben als ein hohes Wahlergebnis“, fasst Maurice Conrad zusammen.
Rhetorik, Körpersprache, das Auftreten vor Publikum – das hat Conrad unter anderem auch an der Mainzer Schauspielschule gelernt. Doch nach einem Jahr brach Maurice Conrad die Ausbildung dort wieder ab. „Die Theaterwelt ist nicht sehr progressiv. Geschlechterrollen sind teils noch festgefahrener als in der echten Welt und es gibt kaum den Drang, das zukünftig aufzubrechen.“ Auch Conrads schauspielerische Leidenschaft reichte am Ende nicht dafür.
Das Kreative lebt Maurice Conrad aber längst woanders aus: im Programmieren und im Rap. Ausgerechnet jene Musikrichtung also, in der toxische Männlichkeit so präsent ist wie sonst in keiner. Ein Genre, dem das Zurschaustellen von Statussymbolen immanent zu sein scheint – und bei dem queerfeindliche, misogyne, antisemitische Zeilen zu Skandalen geführt haben. Aber natürlich besteht Rap aus mehr als den Bushidos und Kollegahs dieser Welt.
„Ich fand Rap als Subkultur schon immer faszinierend“, meint Maurice Conrad. „Ich fand es schon immer cool, dass Rap Leute empowert hat, die gesellschaftlich nicht so akzeptiert sind oder sich zumindest was erkämpfen müssen.“ Maurice Conrad macht sich die Stilmittel und den Blingbling-Gestus des Rap zu eigen – und interpretiert sie anders, aber vor allem queer. „Männersex“ heißt der erste Song, den Maurice Conrad inklusive Musikvideo im Februar 2023 veröffentlicht. „Ihr redet über Männlichkeit und dass ihr echte Männer seid“, rappt Maurice Conrad aka MC. „Ich rede über Sex mit Männern, weil ich finde Männer geil.“
Queere Perspektiven im Rap
Dass es auch Gegenwind gibt, war wohl abzusehen. Was Maurice Conrad aber überraschte, war, dass es Leute gibt, die das Video ernsthaft als Angriff auf ihre Subkultur betrachten und damit an die Öffentlichkeit gehen. Der queerfeindlichen Kritik ist Conrad zwei Schritte voraus. Im Video präsentiert Conrad selbst die Schablone eines protzigen Rappers vor dicker Karre. „Noch der akzeptabelste Teil“ heißt es dazu in einem der vielen diffamierenden Kommentare bei YouTube. Nur: Auch diesen Teil rappt MC selbst, aber mit leicht verzerrter Stimme.
Aus der queeren Community sei das Feedback größtenteils positiv gewesen, meint Conrad, viele würden die Idee feiern. Einige wenige hätten sich auch kritisch geäußert und finden das Video „peinlich“. Conrad entgegnet: „Das, was ich im Video mache, ist das, was auch Heteros im Rap machen: überspitzen. Das ist gesellschaftlich voll akzeptiert. Es ist Teil der Kunst. Kein hetero Mensch sagt: ‚Boah, jetzt werden wir hier wieder so übertrieben hetero dargestellt.‘“
Dass selbst einige queere Personen der Meinung seien, eine übertrieben dargestellte Form von Homosexualität würde ihnen schaden, sieht Maurice Conrad als Beweis dafür, dass es längst keine Gleichstellung gibt und sich Vorurteile auch nach wie vor in der Breite halten. „Es gibt immer noch eine Minderheit, die nicht dieselben Rechte und Möglichkeiten hat wie die Mehrheitsgesellschaft. Wenn ich zur Mehrheitsgesellschaft gehöre und keine Unterdrückung spüre, dann schadet es mir nicht, wenn sich jemand über mich lustig macht.“
Aus der Community sei außerdem der Vorwurf gekommen, das Video sei zu cis-männlich dominiert. „Männersex“, bemerkt Conrad, diene jedoch als Synonym für queere Sexualität insgesamt, als Abgrenzung zu heteronormativer Sexualität. Um das zu verdeutlichen, würden die im Video auftretenden Personen mehrheitlich queer beziehungsweise weiblich gelesen. Produziert wurde es mit der Crew, die nun auch in das Kölner Gewerbegebiet gezogen ist.
Es ist gut vorstellbar: der Stempel, die Kritik, die Maurice Conrad oft bekommt, die Schublade, des linken, queeren Aktivmus, in die Maurice Conrad immer wieder gesteckt wird. „Ich glaube, unterbewusst habe ich den Drang, diesen Vorwurf zu entkräften und mich zu beweisen.“ Denn eigentlich kommt Maurice Conrad aus der Informatik. Für Fridays for Future hat Conrad eine Software entwickelt, die Vorlagen für Grafiken zur Verfügung stellt und so das Erstellen von digitalen Medieninhalten erleichtert. Entstanden ist daraus das Start-up „Bluepic“.
„Ich schöpfe viel Selbstwert daraus, dass all die Hater im Netz mich als links und arbeitslos abstempeln, und keine Ahnung haben, dass ich erfolgreich Software entwickle“, fasst Maurice Conrad zusammen. Aber warum eigentlich Informatik? Conrad zeigt sich extrovertiert, mutig, aktivistisch und ohne Scheu vor der Überspitzung; ohne Scheu, Menschen durch Reden zu mobilisieren; ohne Scheu, pointierte Botschaften in die Welt zu senden – sei es über Twitter, in Interviews oder auf Demos. Wie passt zu all dem das stille, das fast schon in sich gekehrte Programmieren dazu?
„Es ist für mich immer eine Möglichkeit gewesen, die Welt so zu gestalten, wie sie mir gefällt“, erklärt Maurice Conrad. „Darum geht es vielen Menschen, die künstlerisch tätig sind. Dass du dir am Ende eine eigene kleine Welt bauen kannst. Und die Tatsache, dass ich theoretisch jede Anwendung, jedes Software-Produkt bauen kann, ist eine echt coole Vorstellung. Es gibt da erstmal keine Grenzen.“ Maurice Conrad gibt unumwunden zu, dass es auch darum geht, Anerkennung zu bekommen. „Wenn auch andere Leute das gut finden, was ich mache, habe ich das Gefühl, die Welt ein Stück weiterzubringen. Und genauso ist es auch im Aktivismus.“
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.