Humanhavarie — Dariush Beigui

Wenn Dariush Beigui Urlaub hat, rettet er Menschen im Mittelmeer. Manchmal kann er nur noch Leichen bergen. Der Binnenschiffer ist als Kapitän oft als erster am Schlauchboot. Dafür droht ihm nun Gefängnis.
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Text: Selmar Schülein — Fotos: Benjamin Jenak

Hier könnte genauso gut ein Text stehen, der von all jenen geschrieben wurde, die Dariush Beigui und die Crews der verschiedenen Seenotrettungsschiffe noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen konnten. Menschen, deren persönliche Geschichten keinen Nachrichtenwert haben, sondern oft in Stereotypen untergehen: Geflüchtete. Manche von ihnen sind Kinder, andere auf die grauenvollste Art kinderlos geworden. Würden die Geretteten diesen Text selbst verfassen, sie würden den Platz vielleicht dafür nutzen, um von den Brüdern, Kindern, Weggefährtinnen zu erzählen, die sie unweit von sich so unerträglich unscheinbar untergehen sahen. Denn anders als im Film ist Ertrinken meist ein lautloser Vorgang.

Vielleicht würden sie aber auch über ihre Angehörigen in den Herkunftsländern schreiben, die jede Nacht mit der immer gleichen Frage einschlafen müssen: ob ihre Liebsten vermisst oder auf der Flucht umgekommen sind. Oder von gänzlich anderen Dingen, die schwer vorstellbar sind für Menschen, die das Privileg eines deutschen Personalausweises im Portemonnaie mit sich herumtragen. Einer, der die biografischen Umstände der Geretteten zumindest im Ansatz kennt, ist Dariush Beigui. Dem Seenotretter käme es allerdings nicht in den Sinn, auch nur für eine dieser Personen stellvertretend zu sprechen. Doch ein Scheinwerferlicht auf den flüssigen Friedhof im Mittelmeer richten, das kann er.

Der Mittvierziger ist Hamburger Hafenschiffer und seit Jahren schon nutzt er seinen Urlaub konsequent dafür, dass die Zahl derer, die im Mittelmeer unbemerkt, unregistriert und oft unkommentiert sterben, nicht noch weiter steigt. 1 940 waren es allein im letzten Jahr. Alle vier Stunden stirbt eine Person in einer Zeit von Billigflügen und Kreuzfahrtschiffen bei dem Versuch, in ein Land zu gelangen, in dem sie Asyl beantragen kann. So zumindest die offiziell erfassten Zahlen. Gäbe es Menschen wie Dariush Beigui nicht, es wären etliche mehr. Grob überschlagen hat er während seiner bisherigen Missionen mit der „Seawatch“ und der „Iuventa“ mehr als 6 000 Menschen auf ein sicheres Schiff geholfen.

Eine beeindruckende Zahl. Stolz spricht Beigui dennoch nicht darüber. Es seien zu viele Tote, die es nicht gegeben haben müsste. 2016 betrat er erstmals ein Seenotrettungsschiff. „Wir waren eine relativ unerfahrene Crew. Wie eigentlich alle zu der damaligen Zeit. 2016 war die gesamte zivile Flotte der NGOs auf dem Mittelmeer gerade frisch aus dem Boden gestampft worden.“ Auf Flüssen war Beigui bereits 180-Meter-Schiffe gefahren, doch navigieren auf dem Meer, das sei etwas Anderes. „Wir sind nach Malta geflogen, haben dort die ersten Trainings absolviert. Niemand hatte eine Vorstellung vor dem ersten Mal.“

Die Crew wird Familie

Die längste Strecke, die Dariush Beigui bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Schiff gefahren war, dauerte einige Minuten. „Im Hamburger Hafen muss ich die ganze Zeit abbiegen und bin auch gleich am Ziel.“ Bei seinem ersten Einsatz braucht das Schiff von Malta aus bis ins Suchgebiet etwa 24 Stunden. Beigui ist auf dieser Anfahrtsroute sogleich für seine erste Nachtschicht eingeteilt: 0 bis 4 Uhr Wache. „Du fährst also vier Stunden geradeaus. Es ist dunkel, du siehst nichts. Ich hab doch Hafenschiffer gelernt, was mache ich hier eigentlich?“ Tags darauf steuert die Crew ein Schlauchboot mit 150 Personen an. „Damals zu bestellen bei alibaba.com ab 600 Dollar, Artikelbezeichnung ‚Refugee Boat‘. Kapitalismus rockt.“

Der Seenotneuling ist Steuermann auf der Brücke. Als „Puller“ übernimmt er zusätzlich die Aufgabe, die kraftlosen Körper in Sicherheit zu hieven. Die eindrücklichste Erinnerung, die von diesem Einsatz geblieben ist: „Wie anders sich diese Menschen angefühlt haben. Es ist kein Leben mehr in den Leibern. Als würdest du Mehlsäcke hochziehen“, fasst Beigui zusammen. Verpflegung gebe es nicht auf diesen Booten. Zudem machten zwei oder gar vier Tage in der Enge dieser überfüllten Gummivehikel Menschen so unbeweglich, dass selbst, wer geübt sei im Schwimmen, beim Sinken des Bootes sehr schnell ertrinke.

Beigui ist weit davon entfernt, irgendeinen seiner Einsätze zu verklären. Er ist kein hitziger Aktivist, der in der Sprache des Aufstands spricht. Wer ihn in seiner Hamburger Wohnung in einem ehemals besetzten Haus trifft, begegnet eher einem abgeklärten Denker, der auch mal eine philosophische Hausarbeit als Ghostwriter für eine Freundin schreibt. Sein Wohnzimmer: eine Bücherwand. Querbeet von Adorno bis Romanze. Ein wilderer Mix an Texten ist kaum vorstellbar. Die völlig unsortierte Sammlung wirkt wie eines dieser Antiquariate, in denen sich Literatur entdecken lässt, die sonst auf keinem Radar mehr auftaucht.

Vielleicht kann Dariush Beigui die eindrucksvollen Aspekte der Seenotrettung auch deshalb mit nüchterner Distanz reflektieren. Das erhebende Gruppengefühl beispielsweise, das entstehe, wenn wildfremde Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt für einige Wochen zusammenkommen, um kompromisslos über ihre Grenzen zu gehen. „Auf der elektronischen Karte siehst du dann plötzlich diese zivile Flotte, alles NGO-Schiffe. Hier patrouillieren acht Gruppen in ihrer Freizeit hin und her. Die reißen wirklich was. Und du bist Teil davon.“

Ein Leben in der Matrix

Wenn Dariush Beigui zurück in Deutschland ist, spürt er, dass diese Gruppendynamik ein Ausnahmezustand ist. Eine Form der Gemeinschaft, die er zu Hause nicht findet. Jedes Mal sei es schwieriger, zurückzukommen. Diese Zweiteilung globalgesellschaftlicher Realitäten beschreibt er als surreal: „Es fühlt sich an, als würde ich in einer Matrix leben. Ein Freund erzählt mir von Problemen mit seinem Garten, aber bis gestern war ich dafür zuständig, dass Menschen nicht ertrinken.“ Für Beigui ist es untragbar, dass es so eine zivilgesellschaftliche Bewegung überhaupt geben muss. Dass Spenden Seenotrettung auf einer der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt finanzieren müssen und Crews aus Laien diese dann ausführen.

Beigui gibt ausführlich Auskunft über alle Aspekte seines Engagements. Dabei muss er immer wieder auch persönliche Bereiche offenlegen, immer wieder sammeln sich Tränen in seinen Augen, das Weitersprechen kostet Überwindung. Er spricht dennoch offen über psychische Belastungen, die mit jedem Einsatz schwerer auszuhalten seien. Vielen Crewmitgliedern gehe es so: „Mittlerweile würde ich sagen, wenn du auf eine Party kommst, und da sitzt einer in der Ecke, der Tränen in den Augen hat, dann ist es bestimmt ein Seenotretter.“ Beigui weiß, dass unter den Crews großer Frachtschiffe die Ansage gilt: „Im Mittelmeer nicht rausschauen.“

Und auch Seelsorgende in den Häfen beschreiben vielfach Fälle von Seeleuten, die zu viel sehen mussten, aber nicht helfen konnten. Ein solches Aufeinandertreffen von Menschen in Seenot und einem Industrieschiff musste Beigui während seiner zweiwöchigen ersten Mission selbst miterleben. Der Frachter habe ihr Seenotrettungsschiff damals angefunkt: „Wir haben in Sichtweite ein Schlauchboot. Wir können nichts machen mit 20 Meter hohen Bordwänden. Aber wir bleiben bei dem Boot, dann könnt ihr es besser finden.“ Das Verhalten des Kapitäns sei eine absolute Ausnahme gewesen, so Beigui. Dass die eigene Route für einige Stunden unterbrochen wird, um mit einem Seenotrettungsschiff zu kooperieren, komme fast nie vor.

Beigui und seine Crew fahren mit Motoren auf Anschlag, der Standort liegt weit entfernt von ihrer Position. In dieser Zeit wäre das Schlauchboot längst abgetrieben. Eine halbe Stunde vor Ankunft eine zweite Meldung per Funk: „Ihr könnt langsamer machen. Das Boot ist gekentert.“ Was dann folgt, ist eine jener Erfahrungen, die Menschen für immer verändern können: „Wir haben uns auf der Fahrt umgestellt. Von Menschen retten auf Menschen bergen.“ Beigui hat an diesem Tag drei Leichen an Bord geholt. „Alle sagen dir vorher: Schau ihnen auf keinen Fall ins Gesicht. Natürlich habe ich es trotzdem getan. Später musste ich Arme zurechtbiegen, damit sie in die Leichensäcke passen.“ Es gibt psychologische Briefings vor jeder Mission für die jeweils neu zusammengestellte Crew. Doch auf zwei Wochen mit derlei psychischen Ausnahmesituationen kann niemand vorbereitet werden.

Europas Achselzucken

Seinen Lebensunterhalt verdient Beigui mit „dem besten Job der Welt“, wie er es nennt. Er fährt im Hamburger Hafen eine schwimmende Tankstelle und genießt die langen Zeiträume, in denen der Treibstoff von seinem Schiff in ein anderes gepumpt wird. Der leidenschaftliche Punk-Musiker blickt ohnehin sehr dankbar und zugleich angewidert auf die Privilegien seiner Existenz. „Als ich mit einer Rettungsmission auf Lesbos war, hatten wir eine Kleiderausgabe“, beginnt er von einer Situation zu berichten, die sinnbildlich für den Riss stehe, der durch die Welt geht. „Sonntagnachmittag, zwei Frauen schlagen sich um das einzige T-Shirt, weil ihre Kinder noch keines haben. Nur zwölf Stunden später bin ich zurück in meiner Welt und höre unseren Lehrling darüber sprechen, dass er sein siebzehntes Paar Turnschuhe gekauft hat.“

In diesen Momenten würde Beigui all den Geretteten am liebsten schonungslos eröffnen, wie er denn über die Gesellschaft denkt, aus der er kommt: „Da, wo ihr hinwollt, verursacht es ein Achselzucken, dass ihr fast ertrunken seid. Es interessiert kaum jemanden, was hier mit euch passiert.“ Dagegen hörte der Hamburger von einer geretteten Person einmal diesen Satz, der für so viel stand, das dieser Mensch erlebt haben musste: „Danke, dass wir für euch Menschen waren.“ Für viele Gerettete sei es der glücklichste Moment seit Jahren, von einem Crewmitglied ein Schälchen mit Essen gereicht zu bekommen.

Knapp 650 Menschen hat Dariush Beigui bei seiner ersten Mission an Bord geholfen. Die meisten von ihnen hätten außer Hose und T-Shirt nichts dabei gehabt. Vor allem Menschen, die aus Subsahara-Afrika fliehen, haben meist viele Jahre in libyschen Arbeitslagern verbracht und besitzen nichts mehr. Es sind diese Arbeitslager, über die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Länderreport schreibt, dass Menschen dort unter Bedingungen gehalten werden, die der Sklaverei ähnelten. Weiter führt der Bericht aus, dass „insbesondere schwarze Arbeitsmigranten und Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen zur Erpressung von Lösegeldern gefangen gehalten und gefoltert“ würden.

Die Praxis, Opfer zu foltern, während Angehörigen im Videotelefonat zuschauen müssen, um Lösegelder schneller fließen zu lassen, ist spätestens seit 2019 belegt. Üblich ist dabei das Abtrennen von Fingern oder anderer Gliedmaßen, Verbrennungen, Elektroschocks, Schläge bis hin zu Morddrohungen. Inzwischen hat der US-amerikanische Fernsehsender CNN sogar eine Sklavenauktion dokumentiert. Das zugehörige Videomaterial ist extrem verstörend.

Es sind diese Zustände, aus denen heraus Menschen in ein völlig unbrauchbares Schlauch- oder Holzboot steigen. Teils unter vorgehaltener Waffe eines Schleppers, wie viele der Geflüchteten immer wieder berichten. Dass viele von ihnen nicht schwimmen können, spielt dann keine Rolle mehr. Für sie geht es nur noch darum, wegzukommen. So versuchen einige der Frauen, die auf diesen Booten landen, einem Leben zu entfliehen, in dem sie zur Prostitution gezwungen oder als Sexsklavinnen gehalten wurden.

Ursachen-Verdrehung

Dariush Beigui, der in all den Jahren etliche Menschen genau aus diesem Leid gerettet hat, beklagt: „Alle haben Verständnis für die Personen, die aus der DDR geflohen sind. Aber für Leute, die aus dieser Hölle kommen, gibt es keine Empathie.“ Eine völlig regungslose Frau habe er einmal an Bord gehabt, die stellvertretend für das Grauen steht, das viele Menschen zu dieser gefährlichen Flucht bewegt. Sie war vielfach vergewaltigt worden und hatte daraufhin ein Kind geboren. Schließlich stellte sich heraus, dass sie ihr Baby auf dem Rücken getragen hatte, als von hinten auf sie geschossen wurde. Ihr Kind hat die Kugel abgefangen.

Vor diesem Hintergrund erscheint die immer wieder aufkommende Diskussion um sogenannte „Pull-Faktoren“ sachlich deplatziert und zudem unkonstruktiv. Schließlich konnte bisher durch keine Studie belegt werden, dass allein die Anwesenheit von Seenotrettungsschiffen mehr Menschen dazu bewegt, in Libyen oder Marokko in ein Boot zu steigen, um die Überfahrt nach Europa zu riskieren. Dieser Gedanke eines Anziehungseffekts durch Schiffe, die mehr Sicherheit im Notfall verheißen, geht von einer falschen Prämisse aus, denn Libyen ist nicht der Startpunkt aller Geflüchteten der Welt, sondern lediglich die letzte Station vor dem Mittelmeer. Letztlich kann die Erzählung des „Pull-Faktors“ darum nur Menschen überzeugen, in deren Köpfen eine Szenerie herumspukt, die in etwa so aussieht: Alle Menschen, die nach Europa kommen wollen, um Asyl zu beantragen, sitzen zu Zehntausenden an einem langen Küstenabschnitt am Mittelmeer und können sich einfach nicht entscheiden: Boot oder nicht?

Dariush Beigui findet einen Vergleich, der dieses Zerrbild nochmal präziser auf den Punkt bringt: „Selbst wenn es eine Brücke nach Europa gäbe, die Menschen würden sie nicht aus dem Grund nehmen, weil sie einfach da ist, sondern, weil eine akute Not vorlag, wegen der sie überhaupt erst 7 000 Kilometer zu Fuß bis zur Brücke gelaufen sind.“ Gründe, die Menschen dazu brachten, ihre Heimat, ihren Freundeskreis, ihre Arbeit aufzugeben. Beigui unterstreicht noch ein weiteres Missverhältnis im anhaltenden Gerede über mögliche Fluchtanreize, die Seenotrettungsschiffe auf Menschen angeblich ausüben könnten. Immer, wenn öffentlich über den „Pull-Effekt“ diskutiert werde, sei es wieder nicht gelungen, darüber zu sprechen, warum diese Menschen überhaupt fliehen mussten.

Von der Not getrieben

Als Hauptursache benennt die Migrationsforschung nämlich tatsächlich „Push-Effekte“, also Umstände, die Menschen zur Aufgabe ihrer bisherigen Existenzen treiben: etwa gewaltvolle Konflikte, politische oder religiöse Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen, die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch Umweltkatastrophen oder auch klimatische Veränderungen. Die Forschungsergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Untersuchungen rund um Migration und Seenotrettung sprechen eine deutliche Sprache, ebenso der Vergleich blanker Zahlen, die durch die Internationale Organisation für Migration im Netz frei zugänglich sind.

So haben im Jahr 2014 zwischen Januar und April mehr als 26 000 Menschen das Mittelmeer überquert. 60 Todesfälle gab es für diesen Zeitraum zu beklagen. Und während die Zahl der Überfahrten in den gleichen vier Monaten des Folgejahres nahezu gleich blieb, stieg die Zahl der Todesfälle jedoch auf 1 687. Was aber hatte sich im Vergleich zum Vorjahr geändert? Wie konnte die Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg über das Mittelmeer zu sterben, um das 30-fache steigen? Von zwei Todesfällen je 1 000 Menschen in Booten auf 60 je 1 000. Und auch wenn es sich verbietet, aus Korrelationen vorschnell Kausalitäten zu machen, ist doch eine Veränderung zwischen den beiden Jahren bezeichnend: Die italienische Marine und Küstenwache hatten die Operation Mare Nostrum eingestellt.

Bis Ende 2014 waren 900 Marinesoldaten zur Überwachung eines 70 000 Quadratkilometer großen Seegebiets im Einsatz. Eine Fläche so groß wie Bayern. In der Straße von Sizilien, wo das Libysche Meer in das westliche Becken des Mittelmeers übergeht, waren die Einheiten mit Flugzeugen, Drohnen, Hubschraubern, Fregatten und Amphibienfahrzeugen ausgestattet, um Seenotrettung leisten zu können und Schlepper aufzugreifen. Ende 2014 wurde diese bislang erfolgreichste Strategie gegen das Sterben auf dem Mittelmeer eingestellt. Im April 2015 gab der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu, dass „es ein schwerer Fehler war, Mare Nostrum zu beenden, das hat Menschenleben gekostet“.

Der Fall Mare Nostrum zeigt, wie dringend es eine staatlich betriebene oder zumindest geförderte Seenotrettung auf dem Mittelmeer bräuchte. Stattdessen werde der Einsatz von zivilen Rettungscrews behördlich zunehmend erschwert. Schiffe würden teils über Wochen in Häfen festgesetzt. Über das intransparente Prozedere hinter derartigen Verzögerungen wurde mittlerweile vielfach und ausführlich berichtet. Dennoch sitzen Schiffe immer wieder fest, während alles bereit wäre, Menschenleben zu retten.

Abgeschaffte Rettung

Seit März 2021 hat sich die prekäre Lage für das zivile Engagement im Mittelmeer nochmal zugespitzt. Gegen Dariush Beigui ist Anklage erhoben worden. Die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Hafenstadt Trapani wirft ihm sowie zwei weiteren Männern und einer Frau vor, mit Schleppern kooperiert zu haben. Sie sollen ihnen Rettungswesten ausgehändigt und sich über Lichtzeichen verständigt haben. Nun drohen den Beschuldigten Höchststrafen von bis zu 20 Jahren. Sie sind Crewmitglieder des Rettungsschiffs „Iuventa“ der deutschen Hilfsorganisation „Jugend Rettet“. Über 14 000 Menschen hatten sie 2016 und 2017 aus der Seenot geholfen. Auch Beigui war damals für einige Wochen als Kapitän auf dem Schiff eingesetzt. Über seine Rolle sagt er: „Auch wenn wir stets versuchen, auf dem Schiff keine konventionellen Hierarchien auszubilden, wirkt es für Außenstehende natürlich immer so, dass der Kapitän derjenige ist, der Befehle gibt, und die anderen führen aus.“

Es ist das erste Mal, dass eine derartige Anklage gegen zivile Seenotrettungsmissionen erhoben wird. Denn nicht nur Dariush Beigui und die Iuventa-Crew, sondern insgesamt 21 weitere Besatzungsmitglieder der Organisationen „Save the Children“ und „Ärzte ohne Grenzen“ sind betroffen. Im August 2017 wurde die „Iuventa“ beschlagnahmt. Erst im Juni 2018 erfährt Dariush Beigui, dass gegen ihn und zunächst noch neun weitere Crewmitglieder ermittelt wird. Beigui ist der einzige, der alle anderen einmal getroffen hat. Bei sechs von ihnen ist die Anklage inzwischen wieder fallen gelassen worden.

Dariush Beigui hat trotz des hohen Strafmaßes und des bevorstehenden Gerichtsverfahrens genug Humor übrig: „Wenn ich jetzt einer der sechs wäre, die nicht angeklagt sind, müsste ich ja ständig meinen Arsch hochkriegen, um den anderen zu helfen.“ Die Anwälte gehen davon aus, dass der Prozess zwischen fünf und zehn Jahren dauern wird. Und sie rechnen mit mindestens 750 000 Euro Kosten. Beigui kommentiert die Situation nüchtern bis idealistisch und es wirkt nicht wie vorgespielt. Er sei älter geworden, als er es jemals erwartet hatte bei dem Lebenswandel vergangener Phasen. „Mir tropft die Privilegiertheit aus jeder Pore. Es wäre anmaßend, wenn ich mich wegen dieses Prozesses fertigmachen würde“, sagt er. Schon bei Vorträgen in der Vergangenheit erklärte Beigui, dass er keine Angst vor europäischen Gefängnissen habe, weil er wisse, woher die Menschen kommen, die bei ihm auf dem Schiff gelandet sind. „Jeder Mensch, dem ich helfe, dass er nicht ertrinkt, dass er nicht mehr in libyschen Lagern zwangsarbeitet, ist es wert, dass ich im Gefängnis sitze.“

Seenotretter angeklagt

So sieht sich Beigui nicht als Leidtragender, sondern in der Verantwortung, den Prozess für internationale Aufmerksamkeit zu nutzen: „Wenn sie auf uns einen Scheinwerfer richten, dann fangen wir an zu singen. Für all die Menschen, die dieses Scheinwerferlicht nicht bekommen.“ Er spielt auf eine große Personengruppe an, die in Italien und Griechenland wegen ähnlicher Vorwürfe im Gefängnis sitzt. Von jedem Schlauch- oder Holzboot, das auf italienischem Festland ankommt, landet in der Regel ein Mensch vor Gericht: Der „Boat Driver“ oder der „Engine Man“. Dass jene Menschen dazu gekommen sind, ein Boot zu steuern, hat jedoch in den seltensten Fällen damit zu tun, dass diese Personen Schlepper sind. Unterschiedlichen Berichten zufolge beträgt die durchschnittliche Dauer dieser Prozesse unter 30 Minuten.

Die Medienaufmerksamkeit für den Prozess gegen Dariush Beigui und die Crewmitglieder der „Iuventa“ dürfte in den kommenden Jahren dagegen enorm ausfallen. Beim Start ist dabei bereits serienreif viel schiefgegangen. Verfahrensfehler, die Zweifel an der Gewissenhaftigkeit der Prozessabläufe vor Ort aufkommen lassen. So musste Beigui inzwischen ganze drei Mal zur Anhörung nach Italien anreisen, nur um jeden Versuch, seine Version der Geschichte ins Verfahren aufnehmen zu lassen, nach wenigen Minuten abbrechen zu müssen. Wieder und wieder hatten die dortigen Behörden Dolmetschende, die nicht dazu in der Lage waren, die deutschen Ausführungen des Seenotretters simultan zu übersetzen. Die Versuche scheiterten dabei nicht an hochspezialisiertem nautischen Fachvokabular, sondern bereits bei so basalen Begriffen wie „Angeklagter“. Sobald es um komplexere Sätzen ging, kam es zur Kapitulation. 

Dabei geht es vor Gericht um einen echten Präzedenzfall, an dem weitreichende politische Interessen verschiedenster Parteien hängen. Unterstützung erfuhren die Angeklagten in der Zwischenzeit sogar von wissenschaftlicher Seite. „Forensic Architecture“, ein international renommiertes Team von Forschenden der Goldsmith-Universität in London, rekonstruierte den Fall, in dem Anklage erhoben wurde, mit aufwändigsten Methoden und auf einer umfangreichen Datenbasis. Zum Einsatz kamen dabei nicht nur die staatsanwaltschaftlichen Dokumente, sondern auch Wetterdaten, Kameramaterial, Bilder der Agentur Reuters und Zeugenaussagen. Modellierungen der Vorfälle in 3D könnten die Vorwürfe entkräften.

Vorübergehend hatte Beigui seine Beteiligung bei Seenotrettungsmissionen erstmals seit Jahren zwangspausiert, als seine Anwälte nach Bekanntwerden der Anklage dazu geraten hatten. Die Stimmung für zivile Missionen sei aktuell jedoch so angespannt wie nie seit dem Start der Initiativen. Beigui erinnert sich, wie dankbar die Behörden anfangs die Hilfe der spendenfinanzierten Schiffe angenommen hätten. Er vergleicht die Zusammenarbeit mit dem Verhältnis, das es in Deutschland etwa zur freiwilligen Feuerwehr gibt. Mittlerweile sei die zivile Seenotrettung aber politisch unerwünscht, der Umgang erscheine heute vielfach wie ein gezieltes Blockieren von Missionen, die täglich Menschenleben retten könnten. Und auch während dieser Text entsteht, wächst die Zahl der im Mittelmeer Sterbenden.

Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.

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