Text: Melanie Skurt — Fotos: Benjamin Jenak
Es gibt Gegenden, deren Ruf ist einfach, nunja, ramponiert. Menschen, die noch nie da waren, haben trotzdem schon ein genaues Bild im Kopf – und das ist meist nicht gut. Zu diesen Orten gehört zweifellos das sächsische Chemnitz. Spätestens seit dort im August und September 2018 tausende Rechtsextreme aufmarschierten und es an mehreren Tagen zu gewaltsamen Ausschreitungen kam, hat die Stadt ein problematisches Image, das sich über die Zeit wenig verbessert hat. Dass auch der Chemnitzer Fußballverein immer wieder Schlagzeilen mit seiner gewaltbereiten Hooliganszene macht, wirkt da nur wie eine ständige Bestätigung.
Weit weniger Beachtung finden dagegen die Menschen, die dieser düsteren Szenerie etwas entgegen setzen möchten. Menschen wie Cornelius Huster etwa. Früher ist Huster immer mal im Stadion des Chemnitzer FC gewesen. „Eigentlich mag ich die Vorstellung, den großen Klub der Stadt zu supporten“, erzählt er. „Selbst habe ich dort auch keine negativen Erfahrungen gemacht.“ Anderes erzählen seine Freunde, die Pöbeleien und rassistische Sprüche auf den Rängen erlebten. Weit über die Stadtgrenzen hinaus sind die rechtsextreme Gruppierungen, die sich im Fanumfeld des Viertligisten tummeln, und ihr Einfluss bekannt. 2019 veranstalteten sie unter anderem eine Trauerbekundung für einen verstorbenen Neonazi im Stadion. Der neu eingesetzte Fanbeauftragte erklärte daraufhin den Ruf des Klubs als „ruiniert“.
Dass es in Chemnitz auch andere Fußballklubs mit ganz anderen Idealen gibt, wissen nur wenige. „Athletic Sonnenberg“ ist ein Herzensprojekt von befreundeten Menschen rund um Cornelius Huster, die schon als Kinder zusammen auf dem Platz um die Ecke gebolzt haben. Als sie 2020 die Idee zur Vereinsgründung haben, spielen viele in unterschiedlichen kleinen Mannschaften in Chemnitz oder umliegenden Dörfern. „Uns alle hat Fußballkultur immer interessiert, vor allem die Werte und Botschaften, die ein Klub transportieren will“, erinnert sich Huster an die Anfänge. „Irgendwann kam dann der Gedanke einfach loszulegen, sich unabhängig aufzustellen und alles von der Pike auf selbst zu machen.“ Huster ist heute Teil des Vorstands und sonst als Sozialarbeiter tätig. Ein Job, der ihn auch im Privaten prägt.
Klub mit Ambitionen
In einem schwierigen Umfeld antirassistische Fußballkultur zu etablieren, habe die Jungs von „Athletic Sonnenberg“ aber nicht bewusst motiviert. „Wenn du als Kind mit dem Chemnitzer FC aufwächst, hinterfragst du das nicht unbedingt“, bemerkt Huster. „Aber klar, irgendwann habe ich mich wie viele andere dort nicht mehr wohl gefühlt. Dann sehnst du dich nach einem Klub, der andere Maßstäbe setzt.“ Um Dinge direkt in den Strukturen zu verändern, finden bei „Athletic Sonnenberg” beispielsweise Awareness-Coachings statt. Denn nicht die körperliche Leistung allein soll im Vordergrund stehen. Es gehe ihnen darum, über den Zugang zum Sport soziales und kulturelles Engagement zu einem großen Ganzen zu verbinden: „Wir wollen das Viertel aktiv mitgestalten“, erklärt Huster das Vereinsmotto „More than a football club“.
Und schon jetzt hätten kleinere Aktionen stattgefunden: ein Sportfest mit zwei Kitas oder ein Infostand auf einem Chemnitzer Stadtteilfest. „Wir wollen zeigen: ‚Du kannst dich einbringen. Komm einfach vorbei.‘“ Haltung gehöre für die Mitglieder des Klubs unbedingt dazu. In ihrem Selbstverständnis heißt es deshalb, „ein Antidiskriminierungsverständnis wird vorausgesetzt beziehungsweise die Bereitschaft, dieses zu entwickeln“. Im Verein spielen viele Menschen mit (post-)migrantischer Biografie. Dennoch ist es dem Team wichtig, nicht als migrantisches oder politisches Projekt verstanden zu werden, sagt Kapitän Filip Fotinho. „Wir denken nicht in diesen Schubladen. Wir bekennen uns zu Werten wie Antirassismus und Antidiskriminierung, aber das sind für uns keine politischen Kategorien, sondern Grundsätze des Menschseins.“
Neben der Kulturfrage spricht Filip Fotinho gerne über Pläne für die Zukunft: aufsteigen, in die Kreisoberliga – das stehe oben auf der Agenda. „Und die Jugendarbeit. Wir konzentrieren uns darauf, neue Mitglieder zu gewinnen.“ Mit dem Zuwachs könnte es tatsächlich schnell gehen, wenn „Athletic Sonnenberg” weiter im bisherigen Tempo wächst. Als 2020 der Startschuss fiel, fand die erste Mannschaft des Klubs mit 20 Spielern quasi aus dem Stand zusammen. Nur zwei Jahre später gibt es bereits ein zweites Männerteam und eine Jugendgruppe.
Der Kiez ist Zuhause
Die Arbeit mit Kindern und jungen Erwachsenen hält auch Christian Tung Anh Nopper für entscheidend. Der Mediengestalter kommuniziert die Marke „Athletic“ nach außen, ist für Social Media, Fotos, Videos und die Designs der Trikots und Streetwear mitverantwortlich. Früher hätte sich Christian Tung Anh Nopper so einen Fußballklub gewünscht. „Mit einem Trainer, der nicht nur rumschreit, alt und konservativ ist.“ Ein Verein als Zufluchtsort, an dem er sich verstanden fühlt und angenommen wird. „Wo ich nicht nur in weiße Gesichter glotze, wenn ich eine andere Hautfarbe habe. Wo Leute aus meiner sozialen Klasse mitmachen, die eventuell dieselben Scheißerfahrungen gemacht haben wie ich“, ergänzt Cornelius Huster. Diese Nahbarkeit sei identitätsstiftend für den Verein.
Das wird auch klar, wenn die Fußballer im Viertel unterwegs sind. Im Schlenderschritt geht es die Straßen entlang. Ein Mann auf der anderen Seite winkt. „Das ist ist Chef der Shisha-Bar“, erzählt Klub-Mitgründer Musti Mohamadi und grüßt zurück. „Einer unserer Sponsoren.“ Groß auf der Brust der blau-schwarzen Trikots prangt noch ein weiterer: das Restaurant Pho Viet. Vom und für den Kiez – das ist die DNA des Vereins. Aber natürlich seien sie offen für ganz Chemnitz. „Alle können mitmachen, auch die, die nicht vom Sonnenberg kommen oder hier wohnen“, sagt Musti Mohamadi, der seine Liebe zum Fußball früh entdeckte. „Jeden Tag kicken auf dem Platz vor unserem Plattenbau“, so beschreibt er seine Kindheit.
Wenn die vier auf das bisher Erreichte schauen, bliebe nur ein Schluss: „Es läuft. Wir sind stolz, was wir in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben“, meinen Mohamadi und Cornelius Huster. Nur eine Sache gibt es, die noch nicht passt: Es fehlt ein eigener Trainingsplatz. Der muss „Athletic Sonnenberg“ von der Stadt zugesprochen werden, „und die Mühlen mahlen sehr langsam.“ Und deshalb fahren sie und das gesamte Team immer noch wöchentlich gut zehn Kilometer an den Stadtrand, um auf dem Rasen des Siebtligisten SV Eiche Reichenbrand aufzulaufen. Ein Platz auf dem Sonnenberg – davon träumen die Fußballer. Ein Platz inmitten der Straßen, die sie „Zuhause“ nennen und wo sie längst schon eine ganz andere Geschichte schreiben, als die, die ihrer Stadt schon so lange anhängt.
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