Sinnsuche — Irmingard Weise

Multiple Krisen bringen Menschen in existenzielle Not. Viele fürchten daher eine zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich. Millionen-Erbin Irmingard Weise fordert ihresgleichen auf, endlich Geld abzugeben.
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Text: Melanie Skurt — Fotos: Benjamin Jenak

Auf dem Boden bleiben. Dieser Anspruch schreibt das Drehbuch zu Irmingard Weises Leben. Dabei hätte sie einfach Flügel bekommen und in andere Sphären verschwinden können. Als Millionen-Erbin stehen ihr schon in jungen Jahren sämtliche Türen offen. Irmingard Weise weiß um ihr Privileg, das sie von Geburt an hat. Und nur einmal habe sie mit diesem Status wirklich kokettiert, gibt sie zu, bevor sie ihrem Geld einen Sinn geben konnte. 

Es war eine kurze, extravagante Phase. Berlin, 1982. „Ich fuhr ein Lancia Coupé, trug Nerz und ging in die Paris Bar auf der Kantstraße.“ Treffpunkt der Kunstszene. Irmingard Weise ist damals 29 Jahre alt. Ihr Medizinstudium geht dem Ende entgegen, sie jobbt als Nachtwache auf Station, will Pathologin werden. Zeitgleich zu diesem Schaulaufen lebt sie in einer WG, teilt Küche und Badezimmer mit anderen. Weise nennt das den „Wunsch nach Normalität“. Doch im Rücken weiß sie einen knapp zweistelligen Millionenbetrag. Er ergibt sich aus dem Immobilienbesitz ihres Vaters im Münchner Umland. 

„Das alles ist lange her. Es war eine Suche, wie sie junge Menschen durchleben. Kurz darauf hatte ich mein Coming-Out“, sagt sie rückblickend und meint, dass sie die Scham, vermögend zu sein, hinter sich ließ. Mit 36 erbt sie und kauft ein Dreiparteien-Haus in der Hauptstadt für eine Dreiviertelmillion Mark. Eine Wohnung bezieht sie selbst, vermietet die anderen. „Genau da habe ich realisiert: Für mich bedeutet so etwas keinerlei Anstrengung. Das unterscheidet mich von 99 Prozent der Bevölkerung und verpflichtet zur kritischen Auseinandersetzung.“ 

Heute spricht sie distanziert über ihren Besitz und fasst sich auffällig kurz. Fast so, als berge ausschweifendes Erzählen die Gefahr, prahlerisch zu wirken. Neben einigen Reihen- und vier Mehrfamilienhäusern gehört Weise auch ein Bauernhof am Chiemsee. Sie selbst lebt auf 82 Quadratmetern Eigentum in Potsdam und problematisiert ihr Prestige: „Immobilienvermögen vermehrt sich anstrengungslos. Es hat gar nichts mit Leistung oder Arbeit zu tun.“ Sie nennt ein Beispiel: 2014 verkauft sie Bauland am Chiemsee. 550 Euro war der Quadratmeter damals wert, heute sei es fast das Doppelte. Solche Wertsteigerungen findet Weise ungerecht und fordert deshalb höhere Steuern für Reiche.

Mit der Millionärsinitiative TaxMeNow wirbt sie für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und oder für eine Vermögensabgabe. Für Irmingard Weise ist dieses Engagement jedoch nicht neu. Bereits 2008 unterstützte sie einen ähnlichen Appell. TaxMeNow belebt diesen mit dem Netzwerk Steuergerechtigkeit und der Bürgerbewegung Finanzwende neu. Damals reagierte die Bewegung „Vermögende für eine Vermögensabgabe“ auf die Folgen der Finanzkrise.

Zehn Prozent ihres Vermögens war und ist Weise bereit abzugeben. In Summe etwas mehr als eine Million Euro. Der Grund? Mit Corona habe sich der gesellschaftliche Ausnahmezustand wiederholt. „Jemand muss die neu hinzukommenden staatlichen Schulden tragen. Ich halte es nur für fair, dass es diejenigen sind, deren Vermögen, vor allem Immobilienvermögen, in den letzten Jahren immer mehr gewachsen ist.“ Von der Energie- und Kostenkrise, die sich infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine entwickelt hat, ganz abgesehen. 

Reiche sollen für Krise zahlen 

Im Armuts- und Reichtumsbericht 2021 heißt es, eine Mehrheit der Befragten befürchte eine weiter zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich. Auch der Anteil derer, die besorgt auf ihre persönliche wirtschaftliche Lage blicken, sei Pandemiebedingt erheblich gewachsen – von zehn Prozent 2019 auf 35 Prozent 2020. Bedenklich sei außerdem, dass sich Armut im Lebensverlauf verfestige. „Die Wahrscheinlichkeit, auch in der nächsten Fünfjahresperiode noch der sozialen Lage ,Armut‘ anzugehören, liegt bei heute armen Menschen bei 70 Prozent – in den achtziger Jahren sind es nur 40 Prozent gewesen“, so der Deutsche Caritasverband

Befunde wie diese erforderten die Solidarität reicher Menschen, bemerkt Irmingard Weise. TaxMeNow adressierte im Wahljahr 2021 vor allem die kommende Regierung. Ein Appell der Initiative: „Wahlen bieten eine einmalige Gelegenheit, die Orientierung von Vermögen am Wohle der Allgemeinheit im Sinne des Grundgesetzes zu stärken.“ Gegenwärtig streiten die Koalitionsparteien der Ampel über eine Besteuerung reicher Menschen. Die SPD sieht darin eine Chance der Bewältigung multipler Krisen und erhält Zuspruch von den Grünen, die FDP wehrt sich entschieden und spricht von einem „Schlag ins Gesicht des Mittelstandes“. 

Weise erwartet in dieser Frage auch von der Ampelkoalition „keine neue politische Kultur“. Dabei sei die staatliche Lenkung bei Umverteilungsfragen unabdingbar. Das erklärt eine Frau, die das Teilen längst routiniert hat. Mit ihrer eigenen Stiftung Rückwärtsundvorwärtsdenken fördert sie unter anderem Bildungsprojekte in Südamerika, mit der Bewegungsstiftung seit 14 Jahren soziale Initiativen in Deutschland. Dennoch dürfe der Gemeinsinn Vermögender nicht auf Wohlwollen beruhen, unterstreicht sie. „Allein demokratische Regelungen machen doch überhaupt erst kontrollierbar, wohin Geld fließt.“

Das erklärte sie 2016 auch in einem offenen Brief an die Multimilliardärin Susanne Klatten. In trocken-analytischer Art, die wohl auch mit ihrer jahrelangen Arbeit als Pathologin zu tun hat, legt Weise dar, warum immenser Geldreichtum eigentlich nicht vertretbar ist. „Gewiss kostet die Verwaltung eines großen Vermögens viel Kraft. Aber wenn Sie sich die Mühe machen und Ihren Einsatz mit Ihrem Einkommen gegenrechnen, so kommen Sie auf einen grotesk hohen Stundenlohn, der durch nichts gerechtfertigt ist. Nicht durch Intelligenz, nicht durch Ausbildung und nicht durch außergewöhnlichen Einsatz.“

Christian Neuhäuser findet, dass Initiativen wie TaxMeNow den gesellschaftlichen Diskurs in die richtige Richtung lenken würden. „Sie machen die Klassenfrage wieder zum Thema.“ Für den Professor für politische Philosophie an der Technischen Universität Dortmund ist genau das zwingend notwendig: „Viele Menschen sind unversöhnt mit dem Land, in dem sie leben. Wenn sie die Erfahrung machen, dass sich Arbeit nicht mehr lohnt und sich Lebensträume nicht mehr realisieren lassen – sei es der Traum von den eigenen vier Wänden oder vom separaten Zimmer für die Kinder – wird das Gesellschaftsmodell, das einem angeboten wird, unattraktiv. Das destabilisiert Demokratien und stärkt fundamentalistische Positionen.“

Mit Vermögen Ideale stützen

Reichen komme daher die Rolle zu, aktiv unter ihresgleichen, in Eliten und Politik für eine Umverteilung zu werben, meint Christian Neuhäuser. Auch um Entwicklungen wie in den USA zu verhindern. Hier zeige sich schon, wie tief sozioökonomische Ungleichheit spalte. „Dort bilden weiße Männer und Frauen in bestimmten Hierarchiestufen gemeinsam eine Elite. Sie heiraten untereinander, fahren daraufhin doppelt so hohe Einkommen ein und erben unter Umständen doppelt. Hingegen wird in anderen Bevölkerungsgruppen unter jenen geheiratet, die weder ein gutes Einkommen erzielen noch erben.“ So entstünden krasse Parallelwelten. „Das wird auch auf uns noch stärker zukommen“, prognostiziert der Professor. 

Zwar sei Reichtum nicht per se problematisch, aber dessen Konsequenzen. Die Konzentration von Geld führe zu dominierender Macht. Und das wiederum zur Erosion von Demokratie und zur Verletzung der Menschenwürde. Für Irmingard Weise sei das der entscheidende Grund, die Dinge anders zu machen. Philanthropie sei ihr Motor. Dennoch gibt sie auch zu, sich auch vom schlechten Gewissen befreien zu wollen. „Mühelos bin ich zu Geld gekommen. Wer erbt, entscheiden der Zufall und das Glück. Das führt vor allem in jungen Jahren zu Momenten der Scham.“ Vielleicht auch, weil Reichtum nicht recht in die politischen Kreise passt, in denen sie sich als Angehörige der 68er-Folgegeneration bewegt. Immenser Besitz steht im Widerspruch zum linken Selbstverständnis. Heute verunsichert sie all das nicht mehr.

In ihrem Alter seien die wichtigsten Entscheidungen des Lebens gefallen, meint Weise. Ihre Legitimation für eine Biografie als Erbin habe sie längst gefunden: „Ich habe mir einen Sinn für das Geld gesucht.“ So ermächtigt sie etwa mit der Bewegungsstiftung Graswurzel-Initiativen, denen das Geld fehlt, um Dinge zu verändern. „Wir unterstützen Menschen, die nicht genug Mittel für Büroräume, Gehälter oder öffentlichkeitswirksame Kampagnen haben.“ 

Einen anderen Punkt betont Irmingard Weise in ihrer Position als Eigentümerin: „Ich halte die Mieten  durchschnittlich und saniere trotzdem energetisch, ohne die Kosten umzulegen. Das wäre moralisch falsch. Grundsätzlich ist es ja schon ein Problem, dass es jemanden wie mich gibt. Jemanden, der eine Immobilie besitzt und jemanden, der darin wohnt. Das schafft eine Abhängigkeit und ein Machtgefälle. Eine Wohnung ist schließlich existenziell.“ Dennoch habe sie nie daran gedacht, einfach alle Immobilien zu verkaufen. Was paradox klingt, erklärt sie so: „Nur indem ich Verantwortung übernehme, kann ich gestalten. Vor diesem Erbe kann ich nicht weglaufen, aber ich kann über das Wie entscheiden.“

Den Anstand, zu teilen und abzugeben, musste sie erst kultivieren. „Ich bin aufgewachsen mit der Scheuklappe: ‚Bloß keine Steuern zahlen, denn das bedeutet Verlust.‘ Das kenne ich noch aus meinem Elternhaus oder aus meinem Beruf als Ärztin. Doch meine Überzeugungen sind andere. Ich sage: Besteuert mich. Das ist ein Beitrag, den ich mühelos leisten kann.“

Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.

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