90-Sekunden-Gedenken — Susanne Siegert

Bei TikTok und Instagram über den Holocaust aufklären? Susanne Siegert will beweisen, dass es geht und recherchiert jeden Tag, um Geschichten aus dem KZ-Außenlager Mühldorfer Hart zu erzählen.
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Text: Jasper von Römer — Fotos: Benjamin Jenak

Als Jugendliche hält Susanne Siegert ihre Erinnerungen und Erlebtes in einem Tagebuch fest. Mit 14 schreibt sie dort: „Gestern hatten wir Tanzkurs und danach wollten wir mit dem 4er Bus nach Hause fahren. Vorher haben wir noch Hausi gemacht und sind dann zum Frauendorfer gegangen und dort hab ich mir eine Zeitschrift mit einem Billy Talent Poster gekauft.“ Stephen Nasser, selbes Alter, notiert Jahrzehnte früher folgende Zeilen in seinem Tagebuch: „Ich weiß, er ist tot, aber es fühlt sich immer noch gut an, sich an ihn zu klammern. Andras, ich werde aus diesem Höllenloch lebend herauskommen. Ich werde es zur Erinnerung an dich tun.“

Mit dieser Gegenüberstellung zwischen ihrem eigenen Leben und dem eines KZ-Häftlings beginnt ein TikTok-Video auf Siegerts Account keine.erinnerungskultur. Dort erzählt sie die Geschichte von Stephen Nasser und seinem Bruder Andras, die zusammen von Budapest nach Auschwitz und schließlich nach Bayern ins KZ-Außenlager Mühldorfer Hart verschleppt wurden. Auf den Innenseiten eines leeren Betonsacks schrieb Stephen Tagebuch. Andras starb wenige Wochen vor Kriegsende und Befreiung in seinen Armen. Aus dem Versprechen zu überleben, entstand viele Jahre später das Buch „Die Stimme meines Bruders“.

Geschichten wie die von Stephen Nasser bereitet Susanne Siegert auf TikTok, Instagram und in einem Podcast auf. Gemeinsam haben die Porträtierten, dass sie einen Bezug zum einst größten Außenlager des KZ Dachau haben. Siegert rückt die Menschen in den Fokus, spricht über Lebensrealitäten der Häftlinge, arbeitet Gräueltaten im Lager auf. Sie ordnet genauso aktuelle Begriffe wie „asozial“ kritisch ein oder erläutert rechtsextreme Symboliken. 

Susanne Siegert ist ganz in der Nähe aufgewachsen – und lange Zeit war Mühldorf für sie nur die nächste Stadt, in der es einen H&M gab und in der junge Menschen feiern gehen konnten. Dass hier von Juli 1944 bis April 1945 über 8 000 Menschen in einem Lager inhaftiert waren und schätzungsweise die Hälfte von ihnen ermordet wurde, weiß Siegert erst, seitdem sie vor drei Jahren mit ihren Eltern zum ersten Mal die Gedenkorte besuchte.

„Ich wollte mehr dazu erfahren und bin online schnell auf ausführliche Quellen gestoßen, auf die ich kostenlos zugreifen konnte.“ Ihr neues Wissen stellte die Online-Marketing-Managerin über die sozialen Netzwerken auch anderen zur Verfügung. „In Anlehnung an einen jüdischen Brauch, habe ich damit angefangen, Steine in Gedenken an die Ermordeten in Mühldorf auf dem ehemaligen Lagergelände hinzulegen und zu fotografieren“, erzählt Siegert. Außerdem recherchierte sie die jeweiligen Biografien und schrieb die Geschichten der Verstorbenen auf.

Geschichte recherchieren

Die 30-Jährige sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa in ihrer Leipziger Wohnung. Hier entstehen alle ihre Videos, die sie ohne Unterstützung vorbereitet, dreht und schneidet. Mittlerweile ist sie meistens selbst in den Videos zu sehen. Ein Schritt, den sie erst probeweise gegangen ist. Susanne Siegert sieht sich in der Verantwortung, sich zu äußern und Geschichten, die sie ohnehin im eigenen Umfeld erzählt, online zu teilen. Ihre Reichweite ist seitdem deutlich gewachsen. Auf TikTok folgen ihr inzwischen mehr als 50 000 Menschen und erfolgreiche Videos erreichen schon mal mehr als eine Millionen Klicks.

Bevor das erste Video online ging, habe Siegert den Verein, der sich für die Gedenkorte in Mühldorf einsetzt und die Gedenkarbeit im Landkreis seit Jahrzehnten vorantreibt, mit der Frage kontaktiert, ob es Einwände gegen die Veröffentlichung gäbe. Eine Antwort habe sie bis heute nicht bekommen. „Ich glaube, dass meine Arbeit trotz der hohen Klickzahlen belächelt und als eine Art Geschichtsvermittlung zweiter Klasse angesehen wird“, vermutet sie.

Von Seiten älterer Generationen sei sie immer wieder mit der Kritik konfrontiert, dass ein 90-Sekunden-Video dem Thema nicht in vollem Umfang gerecht werden könne. Susanne Siegert nimmt die Kritik ernst und hält trotzdem dagegen: „Wenn ich einer Freundin von meinen recherchierten Erkenntnissen erzähle, fange ich ja auch nicht bei der Weimarer Republik an. Ich steige eher so ein: ‚Weißt du noch, da wo wir immer im Freibad waren? Da gab es eine sogenannte Ausländerkinderpflegestätte, in der 150 Kinder ermordet wurden.‘“

Siegert lässt sich bei der Themenauswahl von ihrem persönlichen Interesse leiten und sucht nach örtlichen Bezügen zu Aktuellem, um Brücken in die Vergangenheit zu schlagen. Trotz lokaler Verortung folgen ihren Accounts zu einem großen Teil Leute, die noch nie in Mühldorf waren. Sie ist überzeugt, dass ihre Arbeit für viele eine Motivation und Ermutigung ist, selber zu recherchieren. „Wir alle sind in Orten groß geworden, an denen sich in einem Radius von 200 Kilometern Orte der Zwangsarbeit und der systematischen Vernichtung finden lassen.“

Siegert will zeigen, dass es einfach und kostenlos ist, sich in Online-Archiven auf die Suche zu begeben. „Eine gute Gedenkkultur ist immer aktiv. Wenn Menschen nicht bloß einer Führung folgen, sondern selbst nachforschen müssen, bleibt was hängen.“ Weil es nur noch wenige Holocaustüberlebende gibt, müssen wir als Gesellschaft neue Wege finden, Erfahrungen zu vermitteln. „Das kann über Orte passieren, die wir aus unserem Alltag kennen und plötzlich im Kontext des Nationalsozialismus sehen oder mit der Verknüpfung zu gegenwärtigen Themen – rechte Rhetorik beispielsweise. Wie sah die damals aus? Wie heute?“

In jedem Fall sollte nicht mehr von Erinnerungskultur gesprochen werden, findet Susanne Siegert. „Wir können uns nicht an etwas erinnern, das wir selbst nicht erlebt haben. Es geht jetzt vielmehr um die Frage, wie eine gute Gedenkkultur aussieht.“

Gedenken nach Drehbuch

Gedenkveranstaltungen zum Beispiel liefen viel zu oft nach dem immer gleichen Drehbuch ab und würden so kein aktives Gedenken ermöglichen, meint Siegert. „Du kommst irgendwo hin, eine Geigerin spielt den Soundtrack von Schindlers Liste, dann werden die selben Zitate von den selben fünf Holocaustüberlebenden vorgelesen. Dann wird eine Rose abgelegt, eine Rede gehalten und am Ende wird noch ein Post mit dem Hashtag #Niewieder veröffentlicht.“ Siegert plädiert dafür, neue Wege zu gehen und denkt dabei beispielsweise an Diskussionsrunden mit Engagierten, die sich im Hier und Jetzt mit Flucht, Rassismus oder jüdischem Leben befassen und so das Gedenken mit der Gegenwart verknüpfen können.

Und welche Rolle kann Social Media in der Gedenkarbeit spielen? „Im besten Fall eine große“, erwidert Siegert. Für Menschen, die unterschiedlich sensibilisiert sind und auch verschiedene Wissensstände haben, braucht es viele unterschiedliche Formate. Gibt es auch Grenzen? Erst neulich besuchte zum Beispiel ein TikToker, der mehr als 700 000 Follows zählt und sonst mit Streichen Klicks generiert, die Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz – und filmte sich über Stunden live. Das Video sei voll von unbeantworteten Fragen und unkommentierten Behauptungen und zeuge von fehlendem Wissen über den Holocaust, kritisiert Siegert.

Sie kommentierte den Beitrag in einem eigenen Video und schlug schließlich vor, dem TikToker das nächste Mal eine Person mit historischer Expertise zur Seite zu stellen und die Kommentare zu moderieren, um auf antisemitische Aussagen zu reagieren. „Nur weil ich niemals mit Selfiestick an einer Gedenkstätte streamen würde und es kritisiere, heißt das ja aber nicht, dass ich dem die Daseinsberechtigung abspreche.“ Der Stream wurde zeitweise von 10 000 Menschen angeschaut, von denen ein Teil nie in Auschwitz war und es vielleicht nie sein wird. „Letztlich geht es darum, Menschen zu erreichen, die sich vorher nicht für das Thema interessiert haben – ohne, dass marginalisierte Gruppen verletzt werden.“

Kritik von jüdischen Stimmen hat Siegert bis jetzt ein einziges Mal als Reaktion auf ein Reel bekommen. Zusammen mit einer Historikerin gab sie im Sommer 2022 eine Führung durch das Außenlager Mühldorfer Hart. Später bemerkte sie in den sozialen Netzwerken, dass es Spaß gemacht habe, die Führung zu geben. Monate später, Anfang 2023, teilte ein jüdischer DJ das Video mit einem Kommentar, der sinngemäß wie folgt geschrieben war: „Das ist alles, was ich an Deutschland hasse. Eine Person stellt sich bei dudeliger Musik hin und erzählt, wie viel Spaß sie hatte. Das ist ein Thema, dass Angehörigen keinen Spaß machen kann.“

Daraufhin wurde das Video von anderen großen Accounts geteilt und Siegert sah sich mit Pro-Palästina-Anschuldigungen konfrontiert. Die Kritik habe sie schnell als gerechtfertigt angenommen, sagt aber auch: „Ich verstehe mich als Verbündete. Plötzlich einem anderen Team zugeordnet zu werden, war sehr viel verletzender als jeder rechte Hasskommentar.“

Gefühl der Verantwortung

Die ausgelöste Debatte drehte sich im weiteren Verlauf um Siegerts Idee, niedrigschwellig über den Holocaust zu informieren. Es gehe ihr darum, Leuten einen Denkanstoß zu geben, während sie durch Kochrezepte und Katzenvideos scrollen und gerade nicht empfänglich für den Fakt sind, dass während der NS-Zeit mehr als sechs Millionen jüdische Menschen und genauso Angehörige anderer Minderheiten ermordet wurden. Daraufhin schlug ihr weiteres Unverständnis und Zynismus entgegen. „Wenn du es niedrigschwellig machen willst, mach doch einfach einen Rave im ehemaligen Lagergelände“, hieß es etwa in einem Kommentar.

Siegert beendete die Debatte schließlich selbst und löschte ihr Video. Sie wolle in Zukunft in der Vorbereitung von Veröffentlichungen noch stärker darauf achten, wie sie formuliert und sich ausdrückt. Immer mal wieder wird sie unter ihren Beiträgen auf verharmlosende oder falsche Formulierungen hingewiesen: „Niemand kam ins KZ, sondern Menschen wurden verschleppt oder deportiert. Und es gab keine polnischen Konzentrationslager, sondern es waren deutsche Lager, die in Polen betrieben wurden.“ All das nimmt sie mit, um zu lernen.

Motivation für ihr Tun ziehe Siegert auch aus einem Gefühl der Verantwortung. Kürzlich erst habe ihr ein jüdischer Mann erzählt, dass er keine Lust habe, sich in sozialen Netzwerken zu zeigen – aus Sorge vor antisemitischen Beleidigungen, die er im Alltag immer wieder erfahre. „Umso mehr muss es doch die Aufgabe von nicht-jüdischen Menschen sein, Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten, die sich an die Nachkommen der Tätergeneration richtet und an ihre Verantwortung appelliert“, findet Susanne Siegert. Auszeiten erlaubt sie sich aktuell nicht. „Ich beschäftige mich jeden Tag damit und ich glaube, dass das mehr Menschen tun müssen. Angehörige von Opfern haben auch nicht dieses Privileg, Dokumente ruhen zu lassen und sich einfach nicht damit zu befassen.“ 

Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust empfindet Susanne Siegert nicht zwangsläufig als belastend und deprimierend. Zuletzt aber war es ein ausgestellter Brief in der Gedenkstätte Sachsenhausen, der sie extrem getroffen und berührt hat. Es war die letzte Nachricht, die ein Häftling seiner Frau schreiben durfte, bevor er erschossen wurde – weil er sich weigerte, Schützengräben auszuheben. Das Dokument sei Siegert so nahe gegangen, weil beide zum damaligen Zeitpunkt in ihrem Alter gewesen waren. „Solche Geschichten zu erzählen und bei Menschen ganz ähnliche Emotionen auszulösen, ist ein erster Schritt, um Interesse für das Thema zu wecken. In weiteren Schritten müssen wir Schlüsse ziehen und immer wieder fragen, was wir tun müssen, damit es nicht noch mal passiert.“

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