Müllblind — Stephan von Orlow

Seine achtjährige Tochter brachte Stephan von Orlow ins Grübeln – über die Abfälle auf dem Boden. Ein Pfandsystem für Zigarettenfilter soll aber nur der Anfang sein. Von Orlows Utopie: die müllfreie Gesellschaft.
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Text: Selmar Schülein — Fotos: Benjamin Jenak

Sie sind Tausende. Sie laufen täglich durch die Städte, begegnen einander aber nicht und werden es höchstwahrscheinlich auch nie. Und doch eint sie dasselbe Prinzip: Täglich heben sie mindestens drei Dinge auf, die andere achtlos auf Straßen, Plätzen oder in Grünanlagen der Städte hinterlassen – und entsorgen sie in einem Mülleimer. Auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule. Ins Leben gerufen wurde die Initiative „Aufheber“ von Stephan von Orlow.

Den Impuls bekam der Strategieberater und Prozessmanager aus Berlin während einer Wanderung mit seiner damals achtjährigen Tochter. „Schau mal auf den Boden, Papa. Hier liegt so viel Müll“, habe sie gesagt. Der Vater musste sich daraufhin gründlich umschauen, da ihm die enormen Müllmengen entlang des Weges nicht aufgefallen waren. In diesem Moment sei ihm bewusst geworden: „Es scheint eine ‚Krankheit‘ zu geben, die sich Müllblindheit nennen ließe. Wir nehmen all den Müll im Alltag einfach nicht mehr wahr.“

Einige Tage später beobachteten die beiden einen Mann, der vor ihnen einfach die Reste seiner Taschentücher auf den Boden warf. Stephan von Orlow rang hilflos nach Worten, um die Person zu stellen. Seine Tochter hielt ihn am Arm zurück: „Ach Papa, lass doch, da kannst du eh nichts daran ändern.“ Wenig später gründete von Orlow die „Aufheber“. Auf Facebook wuchs die lose Gruppe von Menschen, die sich gegenseitig motivieren wollten, nun täglich den achtlos fallengelassenen Müll fremder Menschen zu entsorgen, schnell auf über 1 000 an.

Bei der Gründung der Initiative sei es von Orlow aber weniger darum gegangen, durch die Masse an Menschen möglichst große Müllmengen zu beseitigen. Vielmehr stünden hier die Vorbildwirkung einer Gruppe sowie die Sichtbarmachung von Müll im Vordergrund: „Wir müssen uns als Gesellschaft neu kalibrieren. Das findet womöglich gerade auch politisch in Ansätzen statt, aber viel zu schleppend. Wir müssen die Diskrepanz zwischen Urteil und Handeln zügig beseitigen.“ Wer Müll aufsammelt und auch noch davon erzählt, beteiligt sich an diesem Wandel, indem eine Message lauter wird: „Müll aufheben ist normal, ihn einfach in die Gegend zu schmeißen, dagegen nicht.“ Der Grundstein war gelegt.

Immense Müllmenge

Das Problem, dem sich Stephan von Orlow seit Gründung seiner Initiative widmet, ist virulent: Deutschland ist in der Produktion von Verpackungsmüll führend in Europa, das zeigen Zahlen des Umweltbundesamtes. 2019 fielen bereits 18,91 Millionen Tonnen an, fast 50 000 Tonnen mehr als im Vorjahr. Das entspricht einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 227,55 Kilogramm. Eine Vierteltonne Müll pro Person. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in Europa liegt bei 177,38 Kilogramm. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat die Akzeptanz und alltägliche Nutzung von Lieferverpackungen und Einwegbehältern weiter anschwellen lassen.

Doch schon zwischen 2010 und 2020 stieg das Verpackungsaufkommen um über 20 Prozent. Mit einer Petition, die bereits knapp 110 000 Unterschriften zusammentragen konnte, hat von Orlow eine besonders problematische Sorte Müll ins Visier genommen hat: Zigarettenfilter. Für die müsste es eigentlich ein Pfandsystem geben, war er überzeugt. Mit Menschen aus Wien und Erding tüftelte von Orlow an der Idee für ein Kippenpfand, was 2019 gelang.

Statt auf der Kippe landen Kippen zu mehr als zwei Dritteln im öffentlichen Raum und finden sich früher oder später auch überall in der Natur. Und selbst im arktischen Packeis hat das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung Partikel entdeckt, die zweifelsfrei auf Zigarettenabfälle zurückgehen. Ausgerechnet Filter machen dabei den größten Dreck. Denn in den verbrauchten Enden der Zigarette stecken tausende schädliche Stoffe von Mikroplastik bis Schwermetalle. So klein die Überbleibsel auch sein mögen, so groß die Auswirkungen auf Böden und Organismen. Schließlich bringt jeder Filter, der in Kontakt mit Gewässern gelangt, Nikotin, Arsen, Cadmium, Kupfer, Blei, Blausäure und Dioxin in den Nahrungskreislauf ein.

Durchschnittlich 302 Kippen pro 100 Meter Strand wurden in einer Untersuchung auf 23 Stränden in vier Ländern gefunden. Die Studienlage ist dabei bedrückend. Seitenlang ließen sich Ergebnisse präsentieren, die den (teils tödlichen) Einfluss von Zigarettenabfällen auf Flora und Fauna belegen. Schon eine einzelne Zigarette genügt beispielsweise, um tausend Liter Wasser schwerwiegend zu verseuchen.

Deutschland qualmt

Das Problem ist auch deswegen so groß, weil der Zigarettenkonsum trotz eines leichten Rückgangs noch immer so unvorstellbare Ausmaße hat. Nach aktuellen Schätzungen sind in Deutschland 4,4 Millionen der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren abhängig von Tabak. So kommt es, dass hierzulande täglich 204 Millionen Zigaretten geraucht werden. 52 Milliarden Filter gelangen jährlich in die Umwelt. Allein in Deutschland. Angesichts dieser Zahlen ist es wenig verwunderlich, dass die WHO bereits 2014 in einem Bericht darauf aufmerksam machte, dass Zigarettenkippen der am meisten unterschätzte Giftmüll sind. Es drohen zwar Geldbußen zwischen 25 und 100 Euro für all jene, die Kippen auf den Boden werfen, aber kennt irgendjemand eine Person, die schon mal bezahlen musste?

Wie aber mit diesem Problem umgehen? Stephan von Orlows Vorschlag zur Einführung eines Filterpfands zählt zu den erfolgreichsten Petitionen der letzten Jahre. Sie sieht vor, dass am Automaten oder an der Kasse für jede Zigarette zusätzlich Geld bezahlt werden muss, das zurückkommt, sofern der Stummel nach dem Rauchen wieder abgegeben wird. Er schlägt folgende Rechnung vor: zwanzig Cent Pfand pro Filter, vier Euro pro Zigarettenpackung.

Für die Aufbewahrung des Mülls wird den Konsumierenden beim Zigarettenkauf ein Taschenaschenbecher ausgehändigt, der analog zum Flaschenpfand an Automaten wieder zurückgegeben werden kann. Zwar müsste dafür erst die Infrastruktur geschaffen werden, der täglich durch Zigarettenabfälle angerichtete Schaden sei aber Rechtfertigung genug, so von Orlow. Auch vor dem Hintergrund der jährlichen Einnahmen aus der Tabaksteuer, die mit 14,6 Milliarden Euro ganze fünf Prozent des Jahressteueraufkommens im Bundeshaushalt ausmachen, stünden genug finanzielle Ressourcen für die Einführung bereit.

Tatsächlich hat die Europäische Kommission im Rahmen des Aktionsplans Kreislaufwirtschaft angekündigt, die Einführung von Pfandsystemen für ausgewählte Produkte zu prüfen. Was von Orlow dagegen erleben musste, als er sein Konzept erstmals in den sozialen Netzwerken vorstellte, waren unzählige persönliche Angriffe.

Organisiert vermüllt

Geht es um Umweltsünden Einzelner, hat der erhobene Zeigerfinger nur bedingt Einfluss. Das gibt auch die Forschung zu bedenken. „Während moralisierende Appelle und individualisierte Handlungsempfehlungen als vermeintliche Lösung des Müllproblems zunehmend Einzug in die Schulen finden, läuft diese Entwicklung tatsächlich Gefahr, systemische und strukturelle Ursachen der ökologischen Krise im Unterricht aus dem Blick zu verlieren“, sagt Oliver Emde, der am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Transformation und politischer Bildung forscht.

Statt mahnender Appelle an Einzelne sei demzufolge ein Fokus auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Verhaltensweisen unerlässlich: „Unsere gewohnte und zum Teil vermeidbare Müllproduktion ist in hektische Alltagspraktiken eingebunden, die stark beeinflussen, an welchen Stellen Müll in Umlauf gerät und wie er entsorgt wird.“

Es sei wichtig, ergänzt Oliver Emde, dass Einzelne zur Müllvermeidung beitragen, zugleich dürfe es aber nicht um moralisierende Scheinlösungen gehen, die an die Verantwortung der einzelnen Menschen appellierten. „Die Vermüllungspraktiken unserer Gesellschaft sind auch darum nur sehr schwer zu überwinden, weil es materielle Infrastrukturen und institutionelle Rahmungen gibt, die umweltschädliche Verhaltensweisen normalisieren – und letztendlich umweltschonendes Konsumverhalten erschweren bis verunmöglichen.“

Auch Stephan von Orlow will seine Ansätze als Teil eines größeren Ganzen verstanden wissen: „Wir müssen Wege finden, dass Wegwerfen gar nicht stattfindet. Sonst kommen wir nicht ins Handeln. Es braucht Regelungen, damit mich jede Fehlhandlung Geld kostet. Schmeiße ich also eine Zigarette auf den Boden, schmeiße ich Geld weg.“

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