Text: Susanne Kailitz — Fotos: Paul Glaser
Die Sonne scheint warm über Görlitz an diesem Tag im Mai. Die Wiese am Uferpark an der Neiße ist sattgrün, ein paar Menschen auf Fahrrädern kommen vorbei.
Die wunderschönen Gassen an den strahlenden Renaissance- und Barockbauten wirken ein bisschen ausgestorben, aber friedlich. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sich hier am Abend zuvor ein kleines Erdbeben ereignet hat – allerdings nicht tektonisch ausgelöst, sondern politisch.
Auch Hannah Göppert ist immer noch ungläubig. Fünf Tage lang war die junge Frau in Görlitz unterwegs, hat dort eine Ausstellung der „Offenen Gesellschaft“ betreut, in der die Menschen aus Görlitz aufgefordert waren, sich mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Stadt sie künftig leben wollen.
An diesem Montagmorgen ist die Antwort eine, die den Rest der Republik zusammenzucken lässt: Erstmals hat ein Kandidat der AfD bei einer Wahl zum höchsten Amt einer Stadt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen bekommen.
Von „Richtungswahl“ sprachen viele. Ausgerechnet in einer Stadt, die Europa so sehr verkörpert wie kaum eine zweite im Land. Nur durch einen Fluss ist das deutsche Görlitz vom polnischen Zgorzelec getrennt – und es galt lange als unumstritten, dass hier die Menschen in der Lage wären, Grenzen unwichtig werden zu lassen.
Wahl mit schockierendem Resultat
Und nun dieses Wahlergebnis. Das müsse sie auch erst einmal verarbeiten, sagt Hannah Göppert, „das ist nicht so einfach“. Die Referentin der „Offenen Gesellschaft“, einer Initiative, die sich für ein politisches Gemeinwesen einsetzt, wie es das Grundgesetz beschreibt, hat sich seit Monaten mit der Europastadt beschäftigt und dafür mit unzähligen engagierten Menschen gesprochen, die sie mit ihrem unerschöpflichen Mut und ihrem tatkräftigen Einsatz begeistert haben.
Ausgerechnet in den Tagen, in denen Göppert und die Initiative mit den Menschen in Görlitz deren Utopie für ein friedliches Zusammenleben konkreter werden lassen will, haben mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten für eine Politik der geschlossenen Grenzen und Weltbilder gestimmt. Vielleicht ist es ein Symbol, dass Göppert und die anderen an diesem Montag ihre Ausstellung – die von oben betrachtet wie ein großes Ausrufezeichen aussieht – wieder abbauen und die Holzelemente verstauen, um sich auf den Weg in die nächste Stadt zu machen?
„Nein“, erwidert sie, bei aller Ratlosigkeit, die sie aktuell an sich selber feststelle, sei Resignation nicht die passende Antwort. „Wir haben in Görlitz viele richtig gute Gespräche geführt.“ Mehr als tausend Menschen hätten die interaktive Ausstellung besucht und insgesamt rund 170 Ideen und Anregungen für eine offene Gesellschaft gesammelt – zu zweisprachigem Unterricht etwa, gemeinsamen Schulausflügen deutscher und polnischer Klassen, Fahrradbrücken und einer Straßenbahn, die die beiden Teile der Doppelstadt noch stärker verbinden würden.
Zwischen Kreativität und Jobsuche
Immer wieder sei ein Thema aufgetaucht, das nicht einfach zu bearbeiten sei, erzählt die studierte Soziologin. Die Rede ist von der Infrastruktur. Görlitz ist einerseits eine wunderschöne Stadt mit einer so atemberaubenden Kulisse, dass internationale Filmfirmen hierher zum Drehen kommen. Die Mieten hier sind niedrig, das macht die Stadt für viele Kreative besonders attraktiv. Und das Festival für zeitgenössische Kunst „Zukunftsvisionen“ belebt schon seit 13 Jahren wechselnd leerstehende Gebäude.
Andererseits hat die Stadt in den Jahren nach der Wende viele Menschen verloren. Die Menschen, die nun nach Görlitz kommen, sind meist älter. Und jene, die geblieben sind, fürchten um ihre Jobs, weil die Schließung der Standorte von Siemens und dem Fahrzeughersteller Bombardier, die in der Stadt viele Arbeitsplätze stellen, immer wieder im Raum steht. Zugleich gibt es wenige attraktive Jobperspektiven für junge Menschen, dafür aber eine hohe Arbeitslosenquote und eine Kaufkraft, die deutlich unter dem bundesdeutschen Schnitt liegt.
Und doch: Görlitz ist mit diesen Herausforderungen nicht allein. Denn viele andere Städte in Deutschland müssen sich ihnen genauso stellen, auch wenn die Problemlagen überall sehr individuell sind.
Als der Hass immer lauter wurde
Darauf Antworten zu finden – das zählte schon zum Gründungsgedanken der Berliner Initiative. Ihren Ursprung nahm die Geschichte der „Offenen Gesellschaft” in einer Berliner Schankstube. Andre Wilkens, Politikwissenschaftler und glühender Europäer, hatte sich mit zwei engen Weggefährten verabredet: dem Politikberater Alexander Carius und Harald Welzer, Sozialpsychologe und Zukunftsforscher.
Das war im Herbst 2015, als gerade Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland gekommen waren oder sich auf den Weg gemacht hatten. Damals stand die hiesige Republik im Zeichen unbegrenzter Solidarität, weil gutgewillte Menschen mit Teddys und Präsenten Geflüchtete an Bahnhöfen empfingen – und andere in Scharen ihre Hilfe anboten. Angela Merkels vielfach wiederholter Ausspruch „Wir schaffen das“ wurde in dieser Zeit zur Parole für viele Engagierte.
Doch irgendwann kippte die Stimmung – durch Obergrenze-Diskussionen, rassistische Hetze im Netz und genauso auf der Straße oder Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte. Die Solidarität blieb zwar, die Kritik jedoch wurde lauter und vor allem deutlicher. Aus dem Land der unbegrenzten Solidarität wurde das Land der Wütenden. Und so wollte das Dreiergespann Carius, Welzer und Wilkens herausfinden, wie und warum die Stimmung so plötzlich umschlug.
Debatten zur Zukunft des Landes
Noch am Abend ihrer Zusammenkunft fassten sie daher den Entschluss, eine Debatte anzustoßen – sowohl über die Zukunft des Landes als auch zum gesellschaftlichen Miteinander. Dazu wurden einige Hundert Foren organisiert, bei den alle Menschen zu Wort kommen konnten, die den Drang danach verspürten. Der Name der neuen Initiative, die „Offene Gesellschaft“, war damals ebenso schnell gefunden, wie die Premierenveranstaltung im Potsdamer Theater ausverkauft war.
Es habe den Drang gegeben, sich auszutauschen – und das fernab des Internets. „Unsere Gäste wollten miteinander streiten, sich dabei aber ins Gesicht schauen“, so begründete Andre Wilkens den Ansturm. Noch im Dezember 2015 gab es fünf weitere Diskussionsveranstaltungen – in Köln, München, Berlin, Hamburg und Frankfurt.
Die Initiative wollte schon damals nicht als Fremdkörper von außen dazukommen, eine Debatte anstoßen und wieder verschwinden. Sie hat sich deshalb immer mit Aktiven zusammengetan, die vor Ort verwurzelt sind und die politische Diskussion kennen.
Dieser Idee eifern sie bis heute nach – wie in Görlitz. Und auch Hannah Göppert wird sich weiter damit befassen, den ganzen Sommer über. Denn die „Offene Gesellschaft“ ist in Bewegung wie nie in diesem Sommer: Nach ihrer Station in Sachsen reist die Ausstellung quer durchs ganze Land – weiter nach Mannheim und Finsterwalde, Passau und Aachen, Chemnitz und Berlin.
Träume, Geschichten und Gefühle
Im November will die Initiative auf einer großen Abschlussveranstaltung präsentieren, was die Menschen in Ost und West, Nord und Süd auf die Frage antworten, wie sie leben wollen – und wie sie diesen Traum verwirklichen wollen.
Es gehe nicht nur um die Ideen, sagt Göppert, sondern auch um Geschichten – und darum, die Politik wieder daran zu erinnern, dass ein Großteil der Menschen im Land freiheitlich und demokratisch eingestellt sei. Es dürfe nicht nur über die Themen diskutiert werden, die von rechtsaußen gesetzt werden. Und genauso die Antworten auf gesellschaftliche und soziale Fragen dürfe nicht dem vermeintlichen Sprachrohr der „Besorgten“ überlassen werden. Es gelte deshalb, konstruktive Antworten und Ideen in den politischen Diskurs einzubringen – und eine Debatte zu entfachen, wie eine offene Gesellschaft und ein solidarisches Miteinander aussehen können, die alle einbindet.
Allein mit ihrem Namen knüpft die Initiative an die Überzeugungen des Philosophen Karl Popper an, dessen Ziel ein Gemeinwesen war, das offen für Fremdes ist und jedem Menschen die Freiheit gewährt, nach eigenem Wunsch sein Glück zu suchen, ohne totalitäres Denken und verbissene Ideologien.
Zumindest zum Schluss setzte sich diese Position auch in Görlitz durch. Denn mit 55,2 Prozent gewann der CDU-Kandidat schließlich den zweiten Wahlgang gegen die AfD. Das Ergebnis kam aber auch deshalb zustande, weil die beiden Bewerberinnen aus der ersten Wahlrunde, Franziska Schubert (Grüne) und Jana Lübeck (Linke), nicht wieder antraten. Beide warben dafür, den Neu-Oberbürgermeister Octavian Ursu zu unterstützen. Sie habe nie gedacht, dass sie sich mal über einen CDU-Sieg freue würde, sagt Hannah Göppert, „aber diesmal war ich doch erleichtert“.
Den Raum für Gespräche schaffen
Zeit zum Ausruhen bleibt dennoch nicht. Und die Initiative wollte schon immer anders sein als andere – möglichst modern und neuartig. Auf diesem Enthusiasmus fußt nicht nur die Ausstellung, sondern auch eine mindestens genauso ambitionierte Idee.
So sollte der 17. Juni zum „Tag der Offenen Gesellschaft“ werden, um einen verloren gegangenen Feiertag mit neuen Inhalten zu füllen. Denn zwischen 1954 und 1990 beging Westdeutschland an diesem Datum den Tag der deutschen Einheit. Die Berliner Initiative hatte 2017 erstmals dazu aufgerufen, überall in Deutschland lange Tische und Stühle aufzubauen, um zusammen zu essen, zu debattieren und die Demokratie zu feiern. 706 dieser Tafeln standen am vergangenen Wochenende verteilt über die gesamte Republik, Abertausende Menschen haben daran teilgenommen.
Wie wichtig dieser Austausch in einer sich wandelnden Gesellschaft ist, weiß Göppert aus ihrer Arbeit für die „Offene Gesellschaft“, aber auch aus der Wissenschaft: Bevor sie ihr politisches Engagement zum Job machte – was sie als großes Privileg empfindet –, beschäftigte sie sich an der Universität und als Trainerin im Bereich der politischen Bildungsarbeit schon lange mit Themen wie sozialer Ungleichheit, gesellschaftlicher Transformation und sozialem Zusammenhalt, Migration und Rassismus.
Positive, verbindende Narrative seien immens wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sagt sie, „und um die zu entwickeln, braucht es Gesprächsräume, in denen Menschen zusammenkommen und einander zuhören können.“ Die Ausstellung, mit der Hannah Göppert und die „Offene Gesellschaft“ in den kommenden Monaten durchs Land touren, soll dazu genauso einen Beitrag leisten.
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