Asphalt-Wildnis — Fionn Pape

Sie sind überall, werden getreten und überleben trotzdem. Der Guerilla-Botaniker Fionn Pape holt urbane Wildpflanzen aus der Unsichtbarkeit und setzt mit Namensschildchen aus Kreide vergängliche Denkmäler.
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Text: Selmar Schülein — Fotos: Julius Matuschik

Ein gepflasterter Hinterhof im Schatten einer in die Jahre gekommenen Hotelrückwand. Fionn Pape streift durch eine Gegend hinter dem Göttinger Hauptbahnhof, in der sich Menschen höchstens aufhalten, um flott den Koffer aus dem Auto aufs Hotelzimmer zu bringen. Hier kniet der Biologe, in der Hand ein Stück Kreide. Fionn Papes geschulter Blick für die verkannte Flora urbaner Flächen hat eine botanische Ausnahmeerscheinung entdeckt: „Saxifraga“, im Volksmund Steinbrech genannt, wächst hier in einer Pflasterritze, neben Reifenabrieb, der Plastikfolie eines Schokoriegels und einer leeren Zigarettenschachtel. An diesem Ort, wo jede Suche nach einer feuchten Stelle oder nahrhaftem Boden vergeblich scheint.

In großzügigen Schwüngen lässt der Guerilla-Botaniker die Kreide über das Parkplatzpflaster kratzen, bis dort der Name dieser polsterartigen Pflanze mit den filigranen Blüten steht. Und darunter die Zeile: #mehralsunkraut. Das ist der Hashtag unter dem 2020 in den sozialen Netzwerken vermehrt Bilder von Wildpflanzen an den unwirtlichsten städtischen Orten und Plätzen auftauchten. Gepostet von Menschen, die mit Pflanzenbestimmungsbuch oder App und Kreide für die Vielfalt ihrer Asphaltwüsten sensibilisieren wollen. Mehr als 130 000 Leute haben damals das Foto eines mit Kreideschrift bestimmten Baumes in einem Londoner Vorort geliked, parallel sammelte ein Video sieben Millionen Views. Dieses zeigt, wie ein Botaniker des Museums für Naturgeschichte in Toulouse die Namen von Blumen auf den Betongrund schreibt, aus dem heraus sie sich ans Licht kämpfen.

Bei all diesen Gewächsen handelt es sich um pflanzliche Mitbewohnerinnen, die Lebensräume für Insekten bedeuten, in der Masse auch die CO2-Belastung und die Temperatur in bebauten Umgebungen senken. In der Regel werden sie bestenfalls übersehen, meist aber als Unkraut radikal weggebrannt oder -gespritzt. Dabei hat jedes dieser „Mauerblümchen“ besondere Eigenschaften. Einige sind gar essbare Wild- oder Heilkräuter. Fionn Pape, der während des gesamten botanischen Streifzuges durch die Göttinger Innenstadt nicht ein einziges Mal sein Bestimmungsbuch aus dem Rucksack holen muss, kennt die Anekdoten und besonderen Wirkungen all der Pflanzen, die ihm an diesem Tag unterkommen. Seit Kindheitstagen schon wandelt er mit einem Blick für besondere Arten durch den Tag und hat diese Leidenschaft nicht nur zum Beruf, sondern mittlerweile auch zur Berufung gemacht: „Nur was wir Menschen kennen, wollen wir in der Regel auch beschützen.“

Vor drei Jahren ist er also einer der Ersten, die den Trend aus Frankreich und Großbritannien auch in Deutschland aufgreifen. Botanisch Interessierte vor allem aus Hamburg, Freiburg und Mainz erkennen damals das Potenzial in dieser niedrigschwelligen Aktion, die auch unter den Hashtags #krautschau und #morenthanweeds online immer mehr Menschen erreicht.

Hunderte Pflanzenarten, die im Göttinger Baugrau wild gedeihen, holt Fionn Pape mit diesem stillen Aktivismus aus der Anonymität. Der besonnen formulierende junge Mann in der unauffälligen Kleidung betreibt damit eine Art Botanic Street Art, die kaum zum Ärgernis werden kann. Er sprüht nicht verboten Graffitis an Wände, sondern versieht den öffentlichen Raum mit „Grasfittis“, die mit dem nächsten Regen wieder verschwunden sein werden. Auf der Straße bedeutet das, all die Pflanzen, die da in schmalsten Spalten wachsen, zuallererst einmal für die Mitmenschen sichtbar zu machen, für einen Blick, der in der Geschwindigkeit und den Routinen des Alltags oft keinen Sinn für die grüne Vielfalt der Städte hat.

Extrembedingungen

Tatsächlich ist dieser Aspekt – das plötzliche Sichtbarwerden von eigentlich Nahem, das dem Alltagsblick aber so sonderbar fern bleibt – verblüffend: Auf den wenigen hundert Wegmetern von der Bahnhofsgegend Richtung Altstadt kommt der Botaniker kaum mehr voran, so viele verschiedene Pflanzen gibt es alle paar Schritte zu beschriften und zu bestaunen.

Und dieses Staunen kommt von ganz alleine, einfach, weil es so ungewohnt ist, diesen Reichtum auf einmal wahrzunehmen. Neben einer Backsteinmauer erhebt sich Schöllkraut (Chelidonium majus), ein Mohngewächs, dessen Milchsaft früher zur Behandlung von Warzen eingesetzt wurde, wie Pape weiß. Er sagt, jede Geschichte, die ein Mensch mit einer Pflanze verbindet, hilft, sie sich leichter einzuprägen. Einen Steinwurf weiter, in einer Pflasterfuge, findet der Biologe Kahles Bruchkraut (Herniaria glabra). In unmittelbarer Nachbarschaft ein Hungerblümchen (Draba verna) und eine Ecke weiter eine Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana). Eine Art, die in der Biologie äußerst prominent ist, da sie in der Laborforschung zu Fragen rund um die Klimaresistenz von Pflanzen bevorzugt eingesetzt wird.

All diese Arten leben jedoch nicht etwa gerne hier, wie Pape erklärt, sie sind vielmehr die Einzigen, die an derartigen Extremstandorten überleben können. Schon diese ersten Meter machen deutlich: Die unscheinbare Welt der Bordsteine, Grundstückseinfassungen, Mauer- und Asphaltritzen verändert sich schlagartig, sobald der Mensch sie nicht unaufmerksam durchquert, sondern ihr mit einem Stück Kreide zu begegnen versucht. Als wäre schon das bloße Interesse an den Spontanvegetationen, wie die Biologie solch ungeplantes Wachstum nennt, ein Kontrastmittel, das die Pflanzen zwischen all den lauteren und grelleren urbanen Reizen hell aufleuchten lässt. Und die Stadt liegt auf einmal anders vor dem Menschen.

Fionn Pape beschreibt seine Alltagswahrnehmung so: „Wer irgendwann ein gewisses Maß an Artenkenntnis erreicht hat, läuft nicht mehr durch Gegenden, wo einfach irgendwas grün ist. Zu etlichen Pflanzen tauchen automatisch kleine Namensschildchen im Kopf auf und es entsteht eine Verbindung zu diesen Lebewesen.“

Beim Überqueren einer sechsspurigen Straße erregt ein Löwenzahn Papes Aufmerksamkeit. Die Pflanze steht am entlegensten Punkt der langgezogenen Ampelinsel, die die beiden Fahrtrichtungen mit dicken Betonsteinen voneinander abgrenzt. Aus einem grünen Blätternest erhebt sich dort hinten über einen langen Stiehl der körbchenförmige, gelbe Blütenstand. Die Ampel für jene, die zu Fuß unterwegs sind, wechselt schließlich auf Rot, das Flanieren durch die Asphaltflora muss in der Mitte dieser vielbefahrenen Straße pausieren. Und für kurze Zeit verändert sich dann das hintergründige Rauschen des Verkehrs. Motoren im Leerlauf, vom Bahnhof weht das Quietschen eines einfahrenden Zuges herüber.

Wie bei jeder Pflanze, die während dieser Exkursion in die Wildnis der Stadt benannt wird, ergänzt Fionn Pape auch diesmal den botanischen Fachbegriff: „Taraxacum“ sagt er in diese vorübergehende Verkehrsberuhigung hinein. Eine Lautfolge wie aus einer anderen Welt. Dann beschleunigende Autos, die an dem in der Straßenmitte wurzelnden Überlebenskünstler vorbeiziehen. Pape erklärt, dass gerade der Löwenzahn eine überaus wertvolle Pollenquelle für viele Wildbienenarten sei, von denen es im Göttinger Stadtgebiet über 100 gebe.

Wo die Vielfalt stirbt

Zwei Ecken weiter fällt der Blick des Botanikers auf eine gänzlich andere Pflanzengattung: Ein Bergahornbäumchen, kaum größer als ein Kleinkind, hat es trotz aller Widrigkeiten geschafft, diese zarte Höhe zu erreichen. In einem Splittstreifen zwischen Bordstein und der Seitenwand eines Lagers. Daneben prangt mit roter Farbe an die Wand gesprayt die Aufschrift „HAMBI bleibt“ und Pape schreibt erneut seine Botschaft auf den Asphalt: #mehralsunkraut. Dieses Nebeneinander zweier so ähnlicher und doch grundverschiedener Einmischungsformen zeigt einmal mehr, wie unaufdringlich die Guerilla-Botanik vorgeht.

Auf makabre Art passt dieses leise Engagement zu der Problemlage, auf die Fionn Pape aufmerksam machen möchte: Denn das Zwitschern im Kreis der Jahreszeiten verstummt zusehends, die Vogelgesänge verlieren an Stimmenreichtum. Wo weniger Pflanzen gedeihen, leben auch weniger Insekten, die den Vögeln wiederum als Nahrungsquelle dienen. So ist die Anzahl an Vogelindividuen in Deutschland von 1960 bis 2019 um ungefähr 300 Millionen gesunken. Seit 1800 gibt es etwa 80 Prozent weniger Vögel. Allein zwischen 1980 bis 2016 verschwanden in der EU rund 56 Prozent aller Feldvögel, in Deutschland rund 40 Prozent.

Und auch dieser Standort lässt keinen Zweifel daran, dass der junge Bergahorn keine lange Zukunft vor sich haben wird. Früher oder später wird der Ordnungssinn diese Stelle im Stadtbild „bereinigen“. Fionn Pape liegt etwas daran, während seiner Kreidestreifzüge auch Bäume zu beschriften. Insbesondere vor dem Hintergrund eines gar nicht mehr so neuen Trends, Flugreisen vermeintlich mit neu gepflanzten Bäumen kompensieren zu können. Pape hält von dieser modernen Form der Ablassbriefe wenig: „Bäume sind Symbole und Leute stehen auf Symbole. Das ist groß, das lässt sich anfassen, womöglich können Leute sogar selbst einen Spatenstich setzen. Das ist sehr greifbar. Aber bevor irgendjemand anfängt Bäume zu pflanzen, sollten Unternehmen und Bauprojekte erstmal aufhören Primärwälder abzuholzen. Nicht drei Bäume neu pflanzen, sondern drei Bäume erhalten.“

Doch etwas zu bewahren sei für Menschen oft nicht so motivierend, wie etwas Neues zu erschaffen. Darum ist jeder Baum, der als Individuum einen Platz im Bewusstsein der Menschen erhält, ein Gewinn für den Artenschutz, meint Pape. Vor allem auch, weil das Schwinden vorhandener Pflanzen oftmals gar nicht wahrgenommen wird.

Pape verweist auf das psychologische Phänomen der shifting baselines. Es beschreibt den Umstand, dass der Mensch Formen schleichenden Wandels, die sich über einen längeren Zeitraum ereignen, nur verzerrt und sehr eingeschränkt erleben kann: „Die Menschen leben jetzt und denken, so wie es hier in Sachen Pflanzenvielfalt aussieht, ist es normal.“ Zu einer gänzlich anderen Umweltwahrnehmung gelangt jedoch, wer mit älteren Menschen durch die Stadtviertel zieht. Diese Generationen erzählen dann von einstigen wilden Wiesen, wo jetzt Siedlungen stehen, und von prächtigen Bäumen, die manchem Neubau weichen mussten.

Auch Fionn Pape kann solche Entwicklungen aus bereits eigener Erfahrung ins Bild rücken: „2020 habe ich auf einem Parkplatzgelände, das Spießblättrige Tännelkraut (Kickxia elatine) entdeckt, das in Niedersachsen stark gefährdet ist. Mittlerweile wurde diese Fläche jedoch überbaut. Die Pflanze vermisst niemand.“ Gerade weil das Aussterben von Arten für die menschliche Psyche ein äußerst abstrakter Prozess ist, bleibt Pape aktiv und zieht wieder und wieder los. Das Artensterben könne das Individuum kaum beobachten. Doch sich mit dem noch vorhandenen Artenreichtum zu verbinden, das sei möglich. Zumindest schließt der Botaniker das aus den positiven Rückmeldungen und Zuschriften, die ihn auf seine Aktionen hin immer wieder erreichen. Sie zeigen ihm, dass seine einfachen Kreidebeschriftungen immerhin neue Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt wachsen lassen können.

Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.

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