Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Die Zeit drängt. Bis das Leipziger Kulturzentrum Conne Island mit 800 Menschen proppenvoll sein wird, bleiben nur noch ein paar Stunden. Gerrit Falius alias Disarstar hat sich zwischen Soundcheck und Auftritt noch kurz in Schale geschmissen, erklärt er. Jogginghose, saubere Schuhe. Er lächelt. Das Understatement gefällt ihm. Er zieht an seiner Zigarette, was einmal mehr zu seiner markanten Stimme beitragen wird: immer leicht angeraut, etwas atemlos, sonor. Gefeiert wird der Rapper für Zeilen wie diese: „Wurde gehasst für das, wofür Leute mich heute lieben / Ich bin mir selber immer treu geblieben / Wenn die nur wüssten, wie viel Tonnen meine Träume wiegen / Doch ich steh’ kerzengerade und ihr lasst euch verbiegen […] Auch wenn ich fühl’, als hätt’ ich zwanzig Leben hinter mir / Ist das hier alles, was ich wollte, Mann, ich bin das hier. Die Ideale war’n schon vor all den Erfolgen da.“
Disarstar blickt mit 29 schon auf eine spannende Biografie zurück. Gefallen, aufgestiegen, geblieben. Nach dem Absturz aus dem sicher geglaubten Mittelstand geriet er in Fahrwasser, die gemeinhin als die schiefe Bahn bezeichnet werden. Hip Hop, Drogen, Strafanzeigen – das Dreigestirn des Straßenrap wurde für Gerrit Falius von einem reizvollen Image zur bitteren Realität, aus der sich der Künstler mit Gesellschaftskritik und Philosophie hinausmanövrierte. Er tauschte Substanzen gegen Sinnsuche, traf auf andere Kreise: „Da ist eine linke Gruppe in Hamburg auf mich zugekommen und meinte mir: ‚Wir finden es gut, was du machst, aber du ziehst an manchen Stellen die falschen Rückschlüsse.‘ Dann habe ich Marx gelesen.“ Das sei der Anfang vom Ende gewesen, überspitzt er lächelnd.
Seine persönliche Geschichte ordnet er musikalisch ein: sozial und politisch. Der Hamburger bezeichnet sich als Marxist und fordert auf seinem aktuellen gleichnamigen Album „Rolex für alle“. Was auf den ersten Blick weit hergeholt wirke, sei in seinen Augen durchaus machbar: „Ich finde das gar nicht so utopisch. Die Produktivkräfte, die der Kapitalismus entfaltet, machen eine Welt möglich, in der es Rolex für alle gibt“, verdeutlicht er. „Es gibt ja niemanden, der dem Kapitalismus vorwirft, dass er schlecht darin wäre, Reichtum zu generieren. Er ist nur verdammt schlecht darin, diesen Reichtum gut zu verteilen.“ Falius spricht schnell, formuliert nachdrückliche Forderungen: „Die Welt, die ich mir wünsche, ist eine Welt, in der alle sich keine Sorgen machen müssen, wie sie ihre Krankenversicherung, ihre Miete, Essen, Bildung, Kulturveranstaltungen bezahlen. Das ist in meinen Augen realpolitisch umsetzbar.“
Philosophie und Kapitalismus
Disarstar funktioniert aber nicht nur als Gegenbild zu einem inzwischen antiquiert wirkendem Bling Bling-Hip Hop, sondern als Form der rhythmischen Aufruhr. Seine Texte handeln von Armut, Ungerechtigkeit oder Polizeigewalt. In „Ode an die Traurigkeit“ huldigt der Künstler demonstrativ der eigenen Verletzlichkeit. „Als Mann habe ich gelernt, dass es keinen Platz für solche Gefühle gibt. Dass es besser ist, sich schlecht zu fühlen, als sie zu zeigen.“ Deshalb tritt Falius einen Schritt vor und stellt sein Innerstes zur Verfügung – Tränen haben in seinen Geschichten ebenso einen Platz wie Wut, Kitsch, Kiez-Romantik und Gang-Loyalität.
Mit seiner Skizzierung eines modernen Proletariats will er aufklären. „Ich bin ein politischer Typ, der Kunst macht“, sagt er über sich selbst. „Ich bin so etwas wie ein Übersetzer und habe damit eine Scharnierfunktion.“ Zum allgemeinen Dogma erhebt er das aber nicht: „Kunst darf alles und muss nichts. Auch nicht politisch sein. Da bin ich auch weit weg von einer woken Bubble auf Twitter. Aber wenn Kunst politisch ist, finde ich das natürlich gut. Ich finde Musik immer gut, wenn sie neben mir im Raum steht und nicht mit Benz und Goldkette an mir vorbei fährt.“ Aufwühlende Fragen hätten ihn schon als Jugendlichen umgetrieben. Mit 14 bereits produzierte er die erste eigene Musik. Das war die Zeit, die er als seine politisches Erweckung beschreibt. Auf YouTube stieß er auf antisemitische Videos und Verschwörungserzählungen und setzte sich damit auseinander, suchte nach Erklärungen.
„Ich habe in meinem Leben schon früh erkannt, dass alles auf Ursache und Wirkung beruht“, so Falius. „Dass wir alle nicht in einem luftleeren Raum aufwachsen. Alle sind internalisiert und sozialisiert in einer Gesellschaft mit einem bestimmten Wertkonstrukt. Wir sind alle kultiviert – die wenigsten Dinge, die uns umgeben sind natürlich. Und die erste Frage ist: Warum sind die Dinge so? Ich bin für mich zu Antworten gekommen.“ Eine Erkenntnis funktioniere bei ihm wie ein Filter: „Der Großteil der Bevölkerung produziert den Reichtum, von dem aber nur wenige profitieren.“ Und das verstanden zu haben, greife besser als die gesamte Frankfurter Schule, konstatiert er. Innerhalb seines Reifeprozesses habe er auch dumme Sachen gesagt, muss er im Nachhinein eingestehen. Aber auf die Weiterentwicklung komme es Falius an: „Offen sein, reflektieren, kritisch mit sich und der Welt umgehen.“
Ein Leben mit Widersprüchen
Dass Falius kein leeres Stroh drischt, beweist er mit seinem Engagement in kommunistischen Gruppen, das ihn auch zu Songs inspiriert. Vergangenes Jahr sorgte er für Aufsehen, als er vor laufender Kamera in seinem Heimatviertel St. Pauli Metallbügel von Betonbänken flexte, die dort als Barrieren für Wohnungslose angebracht worden waren. Mit der Aktion startete er einen Spendenaufruf für ein Hamburger Wohnungslosen-Projekt.
Indem er erkenne und begreife, ergäben sich für ihn Notwendigkeiten zum Handeln: „Ich kann jetzt nicht mehr an defensiver Architektur vorbeilaufen oder am Arbeitsamt, ohne darin etwas zu sehen – und das macht mich politisch.“ Gerrit Falius hält kurz inne, zieht kräftig an seiner Zigarette. „Ohne, dass es prätentiös klingen soll, aber ich würde mir manchmal wünschen, irgendwo lang zu laufen und eben das nicht zu sehen. Das ist ein bisschen das Rote-Kapsel-blaue-Kapsel-Dilemma. Wenn ich ideologische Tücken für mich dekonstruiere, wird das Leben ja nicht unbedingt einfacher für mich. Vor allem nicht in der Welt, in der wir leben.“
Dass er selbst Teil des Kapitalismus ist, macht er zum Bestandteil seiner Kritik: „Ich bin nicht von dem Sachzwang ausgenommen, Geld einzunehmen, um mein Leben zu bezahlen“, räumt er ein. „Ich glaube auch nicht an ein Leben nach dem Tod. Und wenn ich die Chance habe, viel Geld zu verdienen, dann gebe ich mein Bestes, viel Geld zu verdienen.“ An dieser Stelle zitiert er den Philosophen Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ und schiebt hinterher: „Ich bin voller Widersprüche. Für mich geht es darum, diese zu überwinden – als Materialist, Dialektiker, Marxist.“ Er kämpfe dafür, dass es allen gleich gut gehe, nicht gleich schlecht.
Kritik richtet er nicht gegen das Individuum, sondern gegen das System. Die linksliberale Ansicht, dass die Welt eine bessere wäre, würden alle einfach nur bewusst konsumieren, halte er für „Quatsch“ – auch, weil ihm die Geschichte etwas anderes zeige. „Ausbeutung gibt es in verschiedenen Graden, ist aber das kapitalistische Grundprinzip. Ob du bei Alnatura einkaufst oder Aldi, es sind Abstufungen. Das ist Scheiße in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen.“ Menschen, die ihn Heuchler nennen, attestiert er eine Verkürzung der Debatte: „Sozialpolitik und die Überwindung dieser Gesellschaft sind am Ende des Tages keine Privatsache.“ Politik müsse zum Handeln bewegt werden – wieder und wieder. In Zeiten multipler Krisen habe er Verständnis für Militanz, die etwa im Klimaprotest aufebbt: „Ein paar Schilder hoch halten interessiert eben keinen. Fridays for Future sind seit Jahren zu Tausenden auf der Straße und es tut sich nichts. Es ist nicht die Zeit für Mäßigung, sondern für radikale Forderungen.“
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