Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Für viele Menschen gehört eine Institution zum Aufwachsen dazu: der Zoo. Die Ausflüge in Familie, mit der Kitagruppe oder als Schulklasse sind bis heute eine unterhaltsame Tradition. In Rostock, Krefeld oder Dresden zum Beispiel bekommen Eltern zur Geburt eines Kindes eine Jahreskarte für den Zoo geschenkt, in den meisten Tierparks haben Geburtstagskinder freien Eintritt. Zoos werden als Bildungsstätten inszeniert, dienen aber vor allem zur Begeisterung der Massen. Dass sie Orte mit dunkler Vergangenheit sind – diese Auseinandersetzung findet jedoch nicht ansatzweise so selbstverständlich statt wie die Familienbesuche.
Seit 1878 gibt es den Zoo Leipzig, eröffnet durch den Gastwirt Ernst Wilhelm Pinkert. Heute gilt er als Deutschlands schönster seiner Art und auch als europäisches Vorbild. Direktor Jörg Junhold rühmt ihn auf der unternehmenseigenen Webseite als modern und innovativ, da seine Einrichtung „artgemäße Tierhaltung mit außergewöhnlichen Tierbegegnungen und globales Engagement für den Artenschutz in unvergleichlicher Weise“ verbinde.
Doch die Geschichte der Institution ist vielschichtig – und durchaus schwierig. Denn schon kurz nach der Eröffnung stellte Gründer Pinkert nicht nur Tiere, sondern auch Menschen aus. In sogenannten „Völkerschauen“ wurden zwischen 1876 und 1931 mehr als 750 Menschen im Leipziger Zoo unter entwürdigenden Umständen präsentiert, sie kamen vor allem aus afrikanischen Ländern, auch aus Australien, Nordeuropa, Nordamerika und Asien.
Damit war Leipzig kein Einzelfall. Mit der von Reichskanzler Otto von Bismarck ausgerufenen Kongo-Konferenz in Berlin 1884 stieg die Regierung des Deutschen Reiches in die koloniale Aufteilung des afrikanischen Kontinents ein, nachdem private Kaufleute und Handeltreibende strategisch wichtige Orte längst kontrollierten. Um gegenüber der hiesigen Bevölkerung die verbrecherischen Eroberungen zu rechtfertigen, galten in Europa und den USA Ausstellungen angeeigneter Güter und Lebewesen als wirksames Mittel. Daher wurden in Zoos nicht nur „exotische“ Tiere ausgestellt, sondern auch indigene und Schwarze Menschen vorgeführt.
Der deutsche Tierhändler Carl Hagenbeck stellte 1874 „Lappländer“ aus und legte damit den Grundstein für eine klischeehafte und rassistische Vermarktung. In Kulissendörfern wurde ein vermeintliches Alltagsleben zur Attraktion stilisiert. Die Darstellungen orientierten sich am europäischen Erwartungsbild und changierten zwischen Herabwürdigung und Romantisierung der „ungezähmten Wilden“. Meist wurden die Menschen, die Teil der Schauen waren, unter falschen Versprechungen angeworben, etliche entführt. Sie wurden schlecht entlohnt und versorgt. Viele erkrankten oder starben, Hunderte sind bis heute namenlos geblieben.
Klischees und Stereotype
Kalsoumy und Caro vom Kollektiv „Decolonize Zoo Leipzig“ setzen sich für eine Aufarbeitung dieser Probleme ein. Weil ihr Einsatz längst nicht allen gefällt, geben sie zu ihrer eigenen Sicherheit nur Vornamen preis. Die Aktivistinnen sind überzeugt, die Menschenausstellungen in Zoos hätten zur Verbreitung und Schärfung eines eurozentrischen und rassistischen Blicks beigetragen und damit auch die Unterdrückung, Versklavung, Ermordung und Vergewaltigung kolonisierter Menschen gerechtfertigt. Mit ihrer deutlichen Kritik erschüttern sie das Konzept Zoologischer Gärten in seinen Grundfesten. Während einer Aktionswoche 2021 beteiligte sich „Decolonize Zoo Leipzig“ an einem breiten Protest – mit Workshops, kritischen Vorträgen und einer Kunst-Performance. Die gemeinschaftliche Idee dahinter: Aufmerksamkeit erregen.
Kalsoumy, Caro und ihr Netzwerk stehen mit all dem nicht alleine. Mit ihnen erheben lokale Bi_PoC-Gruppen und auch andere städtische Initiativen ihre Stimmen. Sie fordern eine ernst gemeinte Auseinandersetzung mit Kolonialrassismus im Zoo und eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte – und Gegenwart. „Dass der Leipziger Zoo überhaupt gegründet werden konnte, ist eng mit den Einnahmen aus sogenannten Völkerschauen verknüpft“, erklärt Caro. Auch sie habe erst vor wenigen Jahren erfahren, was das eigentlich war. Das Entsetzen darüber ließ sie tätig werden. So ging es auch Kalsoumy: „Viele hören davon zum ersten Mal. Das haben wir auch auf unseren Demos festgestellt.“
Dass die schwierige Geschichte des Zoos nicht viel bekannter ist, liegt auch am Verhalten der bei vielen so beliebten Institution selbst. „Bis heute hat keine Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte stattgefunden“, kritisiert Kalsoumy. Das liege vor allem daran, dass der Zoo seine Archive nicht öffne. Noch dazu funktionierten heute ganz praktisch die gleichen Prinzipien wie im 19. Jahrhundert: Regelmäßig finden Veranstaltungen wie etwa „Hakuna Matata – Afrika live erleben“ statt. Einem weißen Publikum, prangert die junge Frau an, werde so eine inszenierte „fremde Welt“ vorgeführt, in der es gegen Geld Schwarze und indigene Menschen und deren angeblich typischen Rituale bestaunt. „Das ist eins zu eins das, was in den sogenannten Völkerschauen passiert ist. Nur auf einer anderen Ebene“, fasst Kalsoumy zusammen.
Auf Demonstrationen, Anfragen oder offene Briefe habe die Zooleitung bislang mit Schweigen oder Abwehr reagiert. Es fehle die Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den eigenen Problemen zu befassen, meint Caro. Doch die anhaltende Kritik und der Protest lokaler Bündnisse haben bereits handfeste Veränderungen in Gang gesetzt. Kommunalpolitisch wurde erreicht, dass es im Leipziger Zoo, der jährlich mit 2,8 Millionen Euro von der Stadt Leipzig gefördert wird, die bisherigen „Shows“ über Afrika, Südamerika und Asien nicht mehr geben wird. Diese sollen ersetzt werden durch Formate, die keine Klischees und Stereotype reproduzieren.
Außerdem sollen städtische Organisationen wie die Universität, das Museum für Völkerkunde und „Leipzig Postkolonial“ in die Neukonzeption und generelle Vergangenheitsaufarbeitung einbezogen werden. Diesen Schritt in Richtung Dialog ermöglichte jedoch erst ein Antrag des Migrant*innenbeirats, der im Mai 2022 in den Stadtrat eingebracht wurde.
Vergangenheit aufarbeiten
Mit der politischen Entscheidung sahen sich das Bündnis „Decolonize Zoo“ und andere Leipziger Gruppen zu einem gemeinsamem Statement gezwungen, in dem sie erklärten: „Wir protestieren gegen die ‚Distanzierung von Rassismus‘ eines Zoodirektors, der offensichtlich nicht verstanden hat, wie Rassismus funktioniert. Statt einer floskelhaften ‚Distanzierung‘ braucht es eine wirkliche Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen und Narrativen!“
Ihre eigene Rolle in diesem Prozess beschreibt Caro dennoch zurückhaltend: „Wir haben für öffentliche, mediale Aufmerksamkeit gesorgt, den Protest auf die Straße gebracht und auch Pressemitteilungen verschickt. Das hat eine Dynamik entfaltet, die sich mit dem ganz eigenen Vorstoß des Migrant*innenbeirats ergänzt hat.“ Es sei ein entscheidender Fortschritt, dass die Zooleitung nun gezwungen ist, Gesprächsangebote wahrzunehmen. „Jetzt ist das Potenzial da, eine Problemeinsicht herzustellen. Und das ist der Ausgangspunkt für alles andere.“
Zuvor schaffte es bereits eine Debatte um die Ernst-Pinkert-Straße im Norden Leipzigs und eine kritische Einordnung des Zoogründers auf dem Straßenschild in den Stadtrat. Kleine und große Erfolge – initiiert aus der Zivilgesellschaft, wirksam in der Kommunalpolitik. Trotzdem hinterfragen die Aktivistinnen genauso, inwiefern beispielsweise das Veranstaltungsangebot überhaupt reformierbar ist: „Der Kontext bleibt, dass nur spezifische Menschengruppen und vermeintliche Kulturen im Zoo repräsentiert werden. Das ist und bleibt rassistisch“, so Caro.
Mit dem Bündnis „Decolonize Zoo“ setzen sich Caro und Kalsoumy weiter dafür ein, dass die Bi_PoC-Community bei der zukünftigen Ausgestaltung des Zoos mitreden darf: Wie könnte ein ethischer Zoo aussehen? Und geht das überhaupt? Wie kann ein Gedenken gelingen? Als Vorbild nennen die beiden „Zurückgeschaut – Die Erste Deutsche Kolonialausstellung 1896 in Berlin-Treptow“, die erste Dauerausstellung zu Kolonialismus, Rassismus und Schwarzem Widerstand in einem Berliner Museum. Dekolonialisierung bedeute aber nicht nur den Wandel von Machtstrukturen: „Durch die Öffnung der Zooarchive wäre es vielleicht möglich, Urenkel und Enkel ehemals ausgestellter Menschen ausfindig zu machen und die zu entschädigen.“
Selbst eine Gedenktafel wäre ein wichtiger Schritt und „ein würdevolles Entgegenkommen. Die Vergangenheit ändert sich dadurch nicht, aber es wäre eine Geste und ein Statement. Aber allein das ist sehr schwierig.“ Caro weiß, dass es keine schnelle Veränderungen geben wird. Und auch Kalsoumy glaubt, dass es nicht hilfreich wäre, wenn der Zoo von heute auf morgen einfach schließen würde. „Da bliebe zu viel offen. Die Zoo-Begeisterten wären wütend und enttäuscht, Bi_PoCs würden zur Zielscheibe werden. Die Menschen sollten an einem solchen Prozess teilhaben und ihn auch verstehen.“
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