Text: Micha Steinwachs — Fotos: Benjamin Jenak
Die New Yorker Kellnerin Alexandria Ocasio-Cortez tritt 2018 zu den Wahlen für das US-amerikanische Repräsentantenhaus an – und gewinnt. Mit Hilfe von Freiwilligen, die sie in ihrem Häuserwahlkampf unterstützen, setzt sie sich gegen ihren Vorgänger Joe Crowley durch. Der Demokrat bekleidete das Amt schon 20 Jahre. Es klingt wie der Plot einer Netflix-Produktion: Die Frau mit puerto-ricanischem Background aus der Klasse der hart arbeitenden Bevölkerung bezwingt das reiche, weiße Establishment.
Ocasio-Cortez ist die jüngste Abgeordnete im Kongress und hat den Sitz bei der Wahl 2020 verteidigt. Ihr Wahlkampf war der zweitteuerste Einzelwahlkampf in den USA. 17,3 Millionen US-Dollar sammelte sie ein. Die 31-jährige gehört zu den Nachwuchsstars der Demokraten – und ihr Weg ins Parlament hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Ocasio-Cortez ist für viele Menschen zum Vorbild geworden.
In Deutschland ist es ein genauso mühsamer Weg bis zu einem Mandat im Bundestag. Wer kandidieren möchte, muss sich vorab innerhalb einer Partei durchsetzen. Die Plätze sind begehrt. Kein leichtes Unterfangen, das Zeit und auch Anpassungsfähigkeit kostet. Parteilinie, Fraktionszwang und die Hierarchien innerhalb der Organisation sorgen dafür, dass mutige und vor allem neue Stimmen, die viel bewegen wollen, vom Konsens der Parteien geschluckt werden. Für einige ist der Zugang noch schwieriger, weil sie Migrationshintergrund haben oder aus Verhältnissen kommen, die nicht akademisch geprägt sind. Die neu gegründete Initiative Brand New Bundestag setzt genau da an.
„Wir wollen das deutsche Parlament nicht nur diverser, sondern auch progressiver und zukunftsorientierter machen“, erklärt Mitgründer Maximilian Oehl. Geht es nach ihm und der Initiative soll sich die Geschichte von Alexandria Ocasio-Cortez in Deutschland wiederholen. Inspiriert von dem US-amerikanischen Vorbild Brand New Congress, der den Wahlkampf der New Yorker Kongressabgeordneten unterstützte, rief das deutsche Pendant im vergangenen Sommer mit einer Kampagne dazu auf, engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft für eine Kandidatur zur Bundestagswahl 2021 zu nominieren.
120 Personen, die sich in politischen Bewegungen, Vereinen oder Parteien engagieren, wurden vorgeschlagen. Und aus diesen wählte die Initiative sechs aus, die sie nun in ihrem Wahlkampf um einen Platz im Parlament unterstützt. Brand New Bundestag setzt vor allem auf freiwilliges Engagement und bekommt täglich Anfragen von Interessierten, die tatkräftig mithelfen wollen. Vor allem über das Sammeln von Spenden werden die Kandidaturen unterstützt. Auch helfen die Freiwilligen beim Aufbau von Kampagnen.
Parteilose Kandidatur in Potsdam
Eine von ihnen ist Lu Yen Roloff. Als sie mit Veto spricht, liegt ein Wochenende inmitten von Umzugskisten hinter ihr. Roloff ist gerade erst umgezogen und dabei, ihre neue Wohnung in Potsdam einzurichten. Dass sie mit der Entscheidung, Hamburg den Rücken zu kehren, im oft zitierten Promi-Wahlkreis 61 landen würde, hatte Roloff nicht auf dem Zettel. Nun startet sie ihre Mission, an deren Ende nicht weniger als ein Systemwechsel stehen soll, genau da, wo auch Grünen-Chefin Annalena Baerbock, Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und die frühere FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg antreten.
Als das klar geworden sei, „da habe ich im ersten Moment gedacht: ‚Oha, so macht das eigentlich keinen Sinn.‘ Als ich mit meinem Team aber genauer darüber nachgedacht habe, kamen wir zu dem Schluss: Besser lässt sich der Konflikt zwischen alter und neuer Politik gar nicht sichtbar machen“, erzählt Roloff. Der Kampf der Politgrößen um den Wahlkreis Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fläming II sei in Wirklichkeit „ein reines Scheingefecht“, das viel mediale Aufmerksamkeit generiere, letztlich aber keine wirkliche Bedeutung habe: „Diese Leute sind alle durch ihre Landeslisten abgesichert, das wäre sonst für deren Karrieren viel zu riskant. Denen geht es nicht um die Erststimmen, das haben sie nicht nötig.“
Roloff dagegen hat ohne die Erststimmen keine Chance. Rund 50 000 braucht sie – und ist entschlossen, dafür den Hype um den Wahlkreis strategisch zu nutzen. Ihr Plan ist es, mit Menschen direkt ins Gespräch zu kommen. „Etwa 100 000 Gespräche“ wollen sie und die Menschen, die ihren gewagten Plan unterstützen, bis zur Wahl im Spätsommer oder Herbst 2021 führen – und so Stimmen von CDU, Linken, SPD und Grünen abziehen, aber auch Unentschlossene und Enttäuschte mobilisieren. Das Bundestagsmandat ist für die 43-Jährige kein lang gehegter Traum. Im Gegenteil: „Ich könnte mir für mein Leben Besseres vorstellen.“ Roloff rechnet auch mit persönlichen Angriffen und Diffamierungen, sobald eine kritische Masse an Menschen sie in Potsdam unterstütze.
Warum sie dennoch antritt? „Weil ich das Gefühl habe, dass ich es machen muss. Die Regierung jedenfalls macht ihren Job nicht.“ Und der wäre? „Entschlossen die richtige Klimapolitik machen und dafür sorgen, dass wir Ressourcen gerechter verteilen und smarter nutzen.“ Roloff erzählt, ihr sei der Ernst der Lage selbst lange Zeit gar nicht klargewesen – obwohl die frühere Journalistin lange als Campaignerin bei Greenpeace gearbeitet hat. Ein „Erweckungserlebnis“ hatte sie, als sie Daten zur Zerstörung des Planeten durch Konsum zusammengetragen habe. „Ich habe mich damals gefragt, wieso laufen wir hier noch so ruhig rum, wenn es so dramatisch um unsere eigenen Lebensgrundlagen steht?“
Fehlende Diversität im Bundestag
Vor gut einem Jahr habe sich Roloff schließlich der Bewegung Extinction Rebellion angeschlossen. „Da wurde mir überhaupt erst einmal klar, wie ernst die Lage für das Klima und die Arten ist, und wie sehr wir durch unsere Art zu leben und zu konsumieren unseren Planeten zerstören. Aber was mich wirklich schockiert hat, war, dass das den allermeisten von uns überhaupt nicht wirklich bewusst ist.“ Die Verantwortung dafür trage die Regierung, die die Situation weder ehrlich kommuniziere, noch verantwortlich handele. „Das war der Punkt, an dem ich wusste, dass ich jetzt Verantwortung übernehmen muss.“
Dass sie selbst dann, wenn sie die nötigen Erststimmen bekommt, als freie Abgeordnete im Parlament formal nicht viel Einfluss haben wird, lässt Roloff nicht gelten. „Ich hätte ein Büro, Mitarbeitende, Redezeit und Ressourcen. Das ist ganz, ganz viel“, erwidert sie. Anders als die Menschen in Fraktionen wäre sie dann nicht darauf angewiesen, „in Debatten die richtigen Buzzwords fallenzulassen, damit meine Karriere vorangeht. Ich will nichts werden, ich will wirksam sein – und zwar gemeinsam mit all den Menschen aus der Zivilgesellschaft, deren Stimmen ich im Parlament sichtbar machen möchte.“
Dass dabei eine Frau mit Migrationshintergrund dafür sorgen könnte, dass der Bundestag die deutsche Gesellschaft weit besser abbilden würde als bisher: umso besser. Denn auch daran wollen Lu Yen Roloff und die Initiative Brand New Bundestag etwas ändern. Sie wollen die Demokratie retten, die sie bedroht sehen – und sie stellen wichtige Fragen: Wie demokratisch ist es, wenn in einer repräsentativen Demokratie die Abgeordneten im wichtigsten Parlament nur einen Bruchteil der Bevölkerung abbilden?
Es ist kein Geheimnis, dass die deutsche Gesellschaft deutlich heterogener ist, als es die Zusammensetzung im Bundestag oder der bundesdeutschen Parteien vermuten lassen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung zeigt, dass rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, aber nur drei bis sechs Prozent der Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft ausmachen. Für den Bundestag heißt das: hier sitzen nur rund acht Prozent Abgeordnete mit Migrationsgeschichte. Frauen sind unterrepräsentiert, außerdem gibt es nur wenige, die eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben. Hauptschulabschluss haben von 709 Abgeordneten im aktuellen Parlament gerade einmal neun. Muslimisch sind zwei. Kurzum: zu alt, zu weiß, zu westdeutsch und zu akademisch.
Klimakrise fordert Veränderungen
Es brauche mehr normale Menschen aus der Zivilgesellschaft im Bundestag, meint Roloff, heute mehr denn je. Die Corona-Pandemie habe außerparlamentarischen Aktivismus weiter erschwert. „Und aus der Erfahrung wissen wir, dass von solchen Krisen in der Regel Konservative profitieren und soziale Interessen meist unter die Räder kommen.“ Obwohl sie begeistert sei von den Aktionen zivilen Ungehorsams, auf die Bewegungen wie Extinction Rebellion seit jeher setzen, habe die Welt keine Zeit mehr darauf zu warten, dass außerparlamentarisches Engagement wieder wie vorher möglich sei.
„Wir brauchen eine politische Vision für unser Zusammenleben und einen Plan, um der Klimakrise zu begegnen. Jetzt und nicht irgendwann.“ Ohnehin stellten viele Aktive früher oder später einigermaßen resigniert fest, dass ihr Protest noch so kreativ und innovativ sein könne: Veränderungen außerhalb der etablierten Politik anzustoßen, gelinge ihnen aber zu selten.
Eine Brücke zwischen Zivilgesellschaft und Parlament wolle die Initiative errichten, erzählt auch Maximilian Oehl. Es gebe ein Missverhältnis, so der Jurist mit Blick auf die vielen klimapolitischen und antirassistischen politischen Bewegungen. „Die Generation Fridays for Future ist total aktiv, aber das spielt sich weitgehend außerhalb der Parteien ab. Wir wollen diese Dynamik von der Straße ins Parlament bringen. Denn damit verändern wir Gesetze“, ist sich Oehl sicher. In seiner Stimme klingt ein dezenter Münchner Dialekt. Seiner Meinung nach brauche es jetzt junge Menschen, die sich trauen, große Veränderungen anzustoßen und Entscheidungen zu treffen.
Oehl ist seit langem zivilgesellschaftlich aktiv, gründete die Refugee Law Clinic in Köln und war als Berater im Bundestag tätig. Über allem Engagement schwebt für ihn die Forderung nach mehr Klimagerechtigkeit. Es brauche einen schnelleren Wandel und die Akzeptanz dafür müsse in allen Gesellschaftsschichten verankert werden. Mit einigen Fraktionen im Bundestag sei er dazu im Gespräch. Oehl findet das bestehende System gut und will parteipolitisches Engagement auch in Bewegungskreisen promoten.
Dass Politik genauso abseits von Ausschüssen, Anträgen oder Gesetzesänderungen stattfindet, weiß Dagmar Comtesse. „Das Parlament ist nur ein Ort der Demokratie“, sagt die politische Philosophin. In ihrer Arbeit setzt sich Comtesse mit radikaldemokratischen Theorien auseinander. Es gebe andere Formen politischer Machtausübung, meint sie. Dazu zählen Demonstrationen auf der Straße oder die Beeinflussung eines politischen Diskurses. Für manche Bewegungen könne es sogar ratsam sein, nicht in das formale Feld der Institutionen einzusteigen, um weiterhin radikale Forderungen aufzustellen. „Auf der Straße können Sie sich grenzüberschreitender, fluider und innovativer äußern.“
Es ist eine Frage von Sichtbarkeit
Nur auf das Parlament zu zielen, findet sie zu lokal gedacht. Für Brand New Bundestag hat sie deshalb nicht allzu große Hoffnungen. Das Vorhaben der Initiative findet sie aber trotzdem richtig. Der Kritik an bestehenden Politikkarrieren stimmt sie zu und sieht in der fehlenden Inklusion politischer Parteien ein echtes Problem der repräsentativen Demokratie. „Die Annahme der Volkssouveränität ist der Gedanke, dass alle Menschen die Fähigkeit besitzen, Politik zu machen. Durch das Berufspolitikertum aber wird diese Ansicht immer wieder in Abrede gestellt“, bemerkt Comtesse.
Wenn bestimmte Menschen sich in repräsentativen Demokratien nicht vertreten fühlen, schade das der Demokratie, so die Wissenschaftlerin weiter. Menschen mit weniger klassischen Politikbiografien ins Parlament zu bringen würde daher eine doppelte Repräsentation schaffen. „Wenn eine Frau mit Kopftuch im Bundestag sitzt, dann schafft das Sichtbarkeit, aber auch die Möglichkeit, mit einer Perspektive um Deutungsmacht zu kämpfen, die den meisten Abgeordneten fremd ist“, meint die Theoretikerin.
Für mehr Chancengleichheit schlägt sie außerdem vor, nicht nur unter den vorhandenen Bedingungen auf Teilhabe zu pochen. Die Regeln des Parlamentarismus müssten erweitert werden, zum Beispiel durch die Einführung einer Wahl nach dem Losverfahren, bei der ein Teil der Sitze im Parlament ausgelost würde. So könnte im Prinzip jede Person in eine volksvertretende Rolle treten. Bei entscheidenden Fragen könnten auch Referenden in der Bevölkerung durchgeführt werden, um mehr direkte Beteiligung zu garantieren, schlägt sie vor. „Wir brauchen eine Pluralität der Verfahren, um die Demokratie auf mehrere Säulen zu stellen“, so Comtesse. Dadurch könne vielleicht der starke Vorbehalt abgebaut werden, den es innerhalb der etablierten Eliten gegen größere Teilhabe der Bevölkerung gebe.
So zeigt sich wieder: Politik ist natürlich keine Netflix-Serie. Und zur ganzen Geschichte um das amerikanische Vorbild Alexandria Ocasio-Cortez gehört auch, dass sie eine gut ausgebildete Frau ist, die zwar in der Bronx geboren wurde, aber anschließend als Kind mit ihrer Familie in einem wohlhabenden Vorort aufwuchs. Vielleicht braucht es aber die Symbole, die einen Wandel hervorbringen können und ein Bild einer Gesellschaft zeichnen, die inklusiver ist. Ocasio-Cortez sei ein „großartiges Role Model, ein Vorbild“, findet Lu Yen Roloff. Sie wolle sich nicht mit ihr vergleichen, aber sich inspirieren lassen, das schon. Und daraus Energie schöpfen für einen Job, der viel mehr Bürde wäre als Verheißung. „Aber ich will nicht mehr warten, bis sich jemand anderes findet. Das ist jetzt einfach meine Pflicht.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!