Urbane Oasen — Die Städtischen

Francesco Sormani und Elisa Maschmeier intervenieren im öffentlichen Raum. Mit Hammer, Spraydose und Soundbox zeigen sie im Kollektiv, was Stadt alles sein kann: Straßenzüge werden zu Konzertsälen und Unterführungen zu Galerien.
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Text: Julia Teuchner — Fotos: Johanna Lohr

140 Meter lang und nur spärlich beleuchtet ist die Unterführung unter Münchens Ostbahnhof. Sie ist der Grund, warum sich Francesco Sormani der Initiative Die Städtischen anschloss. „Jedes Mal, wenn ich durch diesen Tunnel gegangen bin, habe ich mich gefragt: Warum ist der so hässlich?“ Kurzerhand griff Sormani selbst zur Spraydose und setzte in roter Farbe den Schriftzug „We are all one“ zwischen Schmierereien und Beschimpfungen. Er wurde erwischt und wegen Sachbeschädigung belangt. Die 1000 Euro wollte Francesco Sormani aber nicht auf sich sitzen lassen. Er startete ein Crowdfunding, um die Strafe zu begleichen – dabei kam so viel Geld zusammen, dass er dachte: „Warum damit nicht noch mehr anstellen?“

Er wandte sich an Die Städtischen und war bald darauf Projektleiter. Denn eine ideenbasierte Zusammenarbeit ist der Motor des jungen Kollektivs: Wer in München einen öffentlichen Platz kreativ bespielen möchte oder Ideen für eine temporäre Nutzung hat, findet hier Expertise aller Art. Ob Dokumentarfilm, Straßenkonzert oder Plakatieraktion mit selbstgeschriebenen Gedichten: Wer Lust hat, mitzumachen, kann sich einer bestehenden Gruppe anschließen – oder ganz eigene Arten der Intervention finden. So nämlich nennen Die Städtischen es, wenn sich ein öffentlicher Raum durch einen kreativen Eingriff wandelt.

Mit einer eigenen Idee zur Intervention wurde auch Elisa Maschmeier Teil des Kollektivs, das bereits seit 2019 besteht. Aus ihrem WG-Zimmer schaute sie auf den lieblos zubetonierten Platz zwischen Elsässer und Breisacher Straße im Stadtteil Haidhausen: „Während Corona dachte ich oft, den Platz hier mitten im Viertel müsste mal jemand beleben und als Treffpunkt für die Nachbarschaft nutzen.“ Zusammen mit Freundinnen stellte Elisa Maschmeier 2020 selbstgebaute Holzmöbel und einen bepflanzten Sandkasten auf dem „Breisässerplatz“ auf, wie er später vom Kollektiv getauft wird. Das war zunächst illegal – bis Maschmeier mit den Städtischen über den Bezirksausschuss eine Gesetzesänderung erwirkte.

Künftig ist es jeder Person in München möglich, eine temporäre Stadtterrasse aufzubauen. „Ich habe mein eigenes Projekt plötzlich ganz anders wahrgenommen. Ich habe gemerkt, es bewegt sich etwas“, blickt Elisa Maschmeier zurück. 2021 wurde dann die erste genehmigte Terrasse auf dem Platz vor Maschmeiers WG errichtet – ein Ort, an dem die Menschen sich ohne Konsumzwang aus einem Tauschregal bedienen konnten. Und heute gibt es ein selbst gezimmertes Schwarzes Brett auf dem Breisässerplatz, an dem zwischen Stadtteil-Tipps der Wiederaufbau der Möbel angekündigt wird.

Raum für Schaffensdrang

Francesco Sormani hatte mit der Umgestaltung der Unterführung zunächst weniger Glück: „Lange war gar nicht klar, wer überhaupt für den Weg verantwortlich ist. Es gab viel Hin und Her zwischen der Deutschen Bahn, dem Bezirksausschuss und Kreisverwaltungsreferat der Stadt. Doch nach einigen Recherchen, viel Papierkram und Überzeugungsarbeit können wir aus dem Tunnel nun eine lebende Galerie machen – sogar mit Fördergeldern.“ Geplant sind Bereiche mit wechselnden Ausstellungen lokaler Kunstschaffender und ein neuer Anstrich – am liebsten in rosa. „Ich sehe das als Statement“, meint Sormani. „Rosa ist die Farbe, die Kinder im Bauch der Mutter als erstes wahrnimmt, sie steht für Geborgenheit und Vertrauen – und hat auch viel dem Aufbrechen von Geschlechterrollen zu tun.“ Noch dieses Jahr wollen die Städtischen mit der Umsetzung ihrer Vision beginnen.

Anstatt sich in ihrem Schaffensdrang von der Pandemie bremsen zu lassen, veranstalteten Die Städtischen 2020 eigene Konzerte mit Hygienekonzept: „Gerade als die Kultur- und Konsumräume fast alle geschlossen waren, wurde auch der Breisässerplatz zu einem Ort des Zusammenkommens. In München sind die Leute verrückt nach kreativen Treffpunkten und Angeboten“, schildert Maschmeier. Nach anfänglicher Skepsis würden die Interventionen oft umso überschwänglicher angenommen: „Viele waren zuerst verwirrt über unsere Paletten-Möbel: ‚Wie, da stehen einfach so Stühle, darf ich mich da überhaupt hinsetzen?‘“ Das Eis war schnell gebrochen. „Und am Ende haben wir hier sogar ein kleines Straßenfest gefeiert.“

Gut ein Dutzend Personen aus Architektur, Schauspiel und Tanz gehören zur Kerngruppe des Kollektivs, weitaus mehr sind an der Verwirklichung einzelner Vorhaben beteiligt. Modellbau, Anträge, Licht- und Tontechnik und Ausarbeitung von Choreografien: Wer welche Aufgaben übernimmt, werde nach eigenen Fähigkeiten und Ressourcen entschieden. „Interdisziplinarität ist unsere größte Stärke.“ Der Treffpunkt des Kollektivs befand sich bisher in einer alten Villa, deren Räume es für einige Monate als Studio, Workspace und Atelier nutzen konnte.

Was ist eigentlich Kultur?

Nun aber müssen Die Städtischen umziehen, der Zeitraum der Zwischennutzung der Villa ist abgelaufen. „Wir suchen immer nach temporären Nutzungen, die sind für nachhaltige Projekte wie unseres meist kostenfrei. Oft sind das Häuser in Privateigentum, die sowieso abgerissen werden. Die Stadt bietet leider nur sehr wenige Räume zur kreativen Nutzung für Vereine an, schon gar nicht längerfristig. Dabei ist die Nachfrage riesig.“ Der Raum für die neue Werkstatt, ein ehemaliger Supermarkt, werde auch wieder von Privatpersonen an das Kollektiv vermietet. „An gemeinnützigen Räumen lässt sich nun mal kein Geld verdienen. Dabei sollte Kultur ein Selbstzweck sein“, bemerkt Francesco Sormani.

Das Kollektiv belebt in München ganze Viertel auf bisher unbekannte Weise: „Hier kommen die verschiedensten Menschen zusammen. Da prallen auch schonmal Lebensentwürfe und Meinungen aufeinander“, so Elisa Maschmeier. „Oft habe ich Leute auf ihrer täglichen Runde zum Tauschregal ins Gespräch kommen sehen.“ Genau das sei das Ziel der Interventionen – konsumfreie Räume würden Menschen dort zusammenbringen, wo sie leben, unabhängig von Vorlieben oder Geldbeutel. Das rege auch die Debatte über das eigene Kulturverständnis an.

„Wir beschreiben unsere Arbeit nicht so gerne als Subkultur“, erklärt Elisa Maschmeier. „Durch diese Vorsilbe wird unserer Art von Kultur wortwörtlich eine andere Form gegeben.“ Der Ticketpreis entscheide letztlich nicht über den Wert einer Veranstaltung, auch wenn das gegenwärtig in München als ungeschriebenes Gesetz gelte. So versucht eine Intervention des Kollektivs am Kulturzentrum Gasteig, den Zwiespalt zwischen unterschiedlich gewichteten Kulturformen zu überbrücken. Tanzende und Musizierende bespielten deshalb die Fläche vor der Interimsspielstätte des Konzerthauses, damit das der Philharmonie zuströmende Publikum ebenso wie neugierige Spazierende Teil eines kostenfreien Musikfestivals werden.

München ist eine sehr schöne Stadt, aber es gibt viel ungenutztes Potenzial“, konstatiert Maschmeier. Kultur sei längst nicht gleichermaßen für alle zugänglich. Die Pandemie habe Ungleichheiten noch verschärft. Daher sei es gerade jetzt wichtig, nicht aufzuhören: „Unser Traum wäre, dass der Laden irgendwann von alleine läuft. Dass Leute wissen, in unseren Räumen können sie eigene Ideen umsetzen und finden, wen und was sie dafür brauchen.“ Kooperationen wie die mit dem Gasteig machen den beiden Mut für die Zukunft, denn: „Wir alle sind Die Städtischen. Alle, die hier wohnen, sollten auch mitgestalten dürfen.“

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