Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
„Es gibt Momente“, sagt Helena Steinhaus und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, „da habe ich keinen Bock, über meine Arbeit zu reden.“ Ihre Tätigkeit stößt nicht immer auf Zuspruch. Gegenwind ist der Aktivistin vertraut. Und ohnehin gibt es mehr zu tun, als zu reden. Ein Blick zum Ende der Straße, in der ihr Büro liegt, fällt auf die Front des dortigen Jobcenters. So nah die beiden Institutionen hier im Berliner Stadtteil Neukölln beieinander liegen, so gegensätzlich stehen sie einander gegenüber.
Steinhaus ist Gründerin des Vereins Sanktionsfrei, dem „benutzerfreundlichen Interface des Jobcenters“, wie sie ihn 2015 betitelte. Seitdem habe sich viel verändert – und viel zu vieles nicht. Deshalb gibt es Sanktionsfrei immer noch.
Angefangen hat alles mit der Idee, Sanktionen des Jobcenters einfach auszugleichen – prompt und unbürokratisch. „Weil das aber nicht unproblematisch ist und ja auch in letzter Konsequenz Sanktionen einen Freifahrtschein geben würde, haben wir einen Hack entwickelt: das Online-Widerspruchstool“, erklärt Helena Steinhaus. Diese Funktion stellt der Verein auf seiner Internetseite bereit. Sie sendet einen Widerspruch direkt an das Jobcenter. Zeitgleich werden kooperierende Rechtsbeistände und der Verein informiert, der die fehlende Summe entweder als zinsfreies Darlehen überweist oder über den Tafelparagraphen deckt, nach dem Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege nicht auf den Regelsatz angerechnet werden. Wenn das Urteil zugunsten der Betroffenen fällt, sind diese gebeten, die Beträge zurück in den Solidartopf zu zahlen.
Über 870 Menschen spenden als „Hartzbreaker“ regelmäßig, damit der Verein das alles leisten kann. Bislang wurden nach eigenen Angaben rund 200 000 Euro umverteilt. „Es hat sich herausgestellt, dass Geld gegen Armut hilft“, so Steinhaus. Sanktionsfrei kritisiert das Konzept Hartz IV an sich und setzt sich für eine bedingungslose Grundsicherung ein – in angemessener Höhe und frei von Kürzungen: „Sanktionen setzen keine Anreize. Sie erhöhen den Druck in einer prekären Situation.“
Der Verein begegnet Hilfesuchenden mit Vertrauen. Es ist nicht von Interesse, wie Menschen in ihre Notlage geraten sind, sondern wie sie wieder herauskommen. Schuld sei in diesem Zusammenhang keine passende Kategorie: „Natürlich gibt es Ursachen für die jeweiligen Missstände, aber diese sind zu komplex, um sie auf das Verhalten einer einzelnen Person zu schieben“, führt Helena Steinhaus aus.
Der Fehler liege maßgeblich in einem neoliberalen Wirtschaftssystem begründet, das die Arbeitslosenquote zur Absicherung vor Inflation gezielt schaffe und nutze. Vor diesem Hintergrund wirke die Behauptung „Alle können arbeiten, wenn sie denn nur möchten“ geradezu zynisch, findet die Vereinsgründerin.
Stereotype und Bevormundung
Den Menschen, die bei Sanktionsfrei anfragen, wird geholfen ohne nachzuhaken, ohne zu bewerten oder zu überprüfen. Denn das ist es, was bedingungslose Hilfe für den Verein bedeutet. Die Rückzahlungen in den Solidartopf erfolgen freiwillig. Als naiv werde sie oft bezeichnet, sagt Steinhaus. Naiv erscheine bei einem Regelsatz von 446 Euro monatlich eher die Annahme, Hartz IV ermögliche ein unbeschwertes Luxusleben.
Es können wenige Euro sein, die einen Menschen vor der Obdachlosigkeit bewahren – oder eben nicht. „Ich will nicht sagen, dass alle Sachbearbeitenden grundsätzlich unfair sind“, stellt Steinhaus klar. „Aber das System begünstigt Machtmissbrauch und hat ein extremes Machtgefälle.“
Allen Studien und Umfragen zum Trotz hält sich das Stereotyp des „faulen, gierigen Hartz-IV-Empfangenden“ hartnäckig. Arbeitslosigkeit als selbstverschuldetes Übel: Das ist ein Stigma, das Betroffenen ihre Situation zusätzlich erschwert, weiß Steinhaus. „Die Beurteilung erfolgt vom hohen Ross herab.“ Die Bevormundung beginnt mit der Annahme, Menschen ohne Arbeit benötigten als Beipackzettel zu monetärer Hilfe erzieherisches Geleit und moralische Anleitung. Als stiegen und fielen Urteilsvermögen, Geschmack und Eigenverantwortlichkeit mit dem Kontostand. „Hartz IV ist nicht das Problem einer einzelnen Schicht, es betrifft alle.“
Einen Coup landete der Verein mit der Kampagne „HappyHartz“. Auf großen Plakatwänden prangten lächelnde Gesichter im Berliner Stadtgebiet, darunter Sätze wie: „Alleinerziehend und studieren? Easy mit Hartz 4!“ Sanktionsfrei verpasste dem Jobcenter provokant über Nacht ein positives Image – und eine kontroverse Debatte brach los. Das Jobcenter reagierte, indem es sich öffentlich von den Plakaten distanzierte. Eine Institution, die sich von einem wünschenswerten Außenbild distanzieren muss, um ihr Image zu retten – eine bittere Pointe.
Wie Helena Steinhaus hat auch Kristina Sosa Noreña frustrierende Erfahrungen mit Hartz IV gemacht und sich deshalb entschieden, beruflich gegen die Misere vorzugehen. Noreña ist Anwältin für Sanktionsfrei in Leipzig. Betroffene, die ihre Kanzlei aufsuchen, können die Miete nicht mehr zahlen, nichts zu Essen kaufen oder haben keine Krankenversicherung. Das System sei ungerecht, konstatiert die Anwältin: „Ich würde sagen, dass gut die Hälfte der Menschen, um deren Fälle ich mich kümmere, unter einer psychischen Erkrankung leidet, fast ein Drittel hat dazu auch eine ärztliche Diagnose. Depressionen sind hier ein riesiges Thema – und es ist ja gerade ein Symptom dieser Erkrankung, dass es Betroffenen schwer fällt, sich für Maßnahmen und Termine zu motivieren.“ Bereits die Suche nach Hilfe stelle häufig eine Hürde dar.
Wissenschaftliches Experiment
Die Corona-Pandemie habe die Situation in vielerlei Hinsicht verschärft, erzählt Helena Steinhaus. Gesellschaftliche Teilhabe ist noch exklusiver geworden: Durch Maßnahmen wie Homeschooling entstehen unerwartete Kosten. Wie sich einen Laptop leisten, wenn das Geld mit Ach und Krach für Lebensmittel aus dem Sonderpreis-Regal reicht?
Kommen dann noch Sanktionen hinzu, rutschen Betroffene und ihre Familien schnell in die Existenznot ab. Wie prekär die Situation ist, zeigen die Reaktionen auf 100-Euro-Gutscheine, die Sanktionsfrei verloste: große Freude und Tränen der Erleichterung. Endlich Eisessen mit der Familie, Eintritt ins Freibad, neue Laufschuhe für das Kind. Dinge, die der Regelsatz überhaupt nicht vorsieht.
Sanktionsfrei will beweisen, dass es besser geht. Mit „HartzPlus“ hat der Verein eine Studie zum Thema Grundsicherung beim Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung in Auftrag gegeben. Das erste wissenschaftliche Experiment dieser Art in Deutschland. Über drei Jahre werden 500 Menschen begleitet: 250 erhalten vom Verein einen finanziellen Ausgleich bei Sanktionen, die anderen nicht. Wie wirkt sich weniger Druck auf die Psyche, das Befinden, die Motivation aus? Erste Ergebnisse sollen im kommenden Frühjahr vorliegen, verrät Steinhaus.
Obwohl in Wahlkampfzeiten eine verbesserte Grundsicherung auf allen Agenden steht, liegt deren angemessene Umsetzung für die Sanktionsfrei-Gründerin noch in weiter Ferne: „Der Schritt ist riesig. Er bedeutet eine politisch-gesellschaftlich-moralische Revolution.“ Am Horizont steht für den Verein die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens. Mit der Abschaffung von Sanktionen wäre schon viel getan.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019, das Sanktionen über 30 Prozent als verfassungswidrig erklärte, sei durchaus ein Erfolg, aber kein endgültiger: „Auch mit 30-prozentigen Sanktionen sind Menschen erpressbar.“ Sanktionsfrei rüttelt deshalb weiter am System. Denn eines steht für Steinhaus fest: „In einer Gesellschaft kommen wir uns nicht näher, wenn Menschen gegängelt werden.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!