In der Sackgasse — Katja Diehl

In Deutschland sind immer noch viele Menschen auf das Auto angewiesen oder vom öffentlichen Verkehr ausgeschlossen. Katja Diehl hört ihnen zu und hat konkrete Ideen, um Mobilität in Zukunft gerechter zu machen.
0 Shares
0
0
0
0
0
0
Text: Viktoria Pehlke — Fotos: Amac Garbe

Auf 41 Millionen Haushalte kommen in Deutschland etwa 48 Millionen Autos. Diese Pkw werden im Durchschnitt 45 Minuten am Tag bewegt. Sie stehen also mehr als 23 Stunden am Tag ungenutzt herum, meist vor der eigenen Haustür – und an diese klopft Katja Diehl: „Musst du oder willst du Auto fahren?“ Die Mobilitätsaktivistin kämpft für eine radikale Verkehrswende. Denn: Der Status quo bedeute Ungerechtigkeit.

Nach dem Abitur studiert Diehl Literatur, Medienwissenschaften und Soziologie in Osnabrück. Bei Praktika bekommt sie Einblicke in Radio und TV, finanziert sich ihr Studium durch einen Job bei einer Nachrichtenagentur. Ihre erste feste Stelle tritt sie bald darauf bei der Deutschen Bundesstiftung Umwelt an. Dort lernt sie nicht nur viel über Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch über Nachhaltigkeit. Letztlich werden Kommunikation und Mobilität zu ihren Themen – und Diehl gründet 2019 „She Drives Mobility“. Aus ihrem Projekt, das als gleichnamiger Podcast begann, ist mittlerweile eine Marke geworden. Diehl ist als Moderatorin und Beraterin unterwegs und schreibt zurzeit ihr erstes Buch. Als Expertin für neue Mobilität, neues Arbeiten und Diversität will sie vor allem eines, wie sie sagt: „Laut sein für diejenigen, die das System vernachlässigt.“

Diehl sagt, eine Verkehrswende sei „mehr als nur technischer Fortschritt“. Sie kritisiert technikbegeisterte Ansätze wie die Entwicklung von Flugtaxis. Was ihr dabei fehlt, ist eine Aufarbeitung grundlegend fehlerhafter Muster der Mobilität, die Hürden entstehen lassen. Diehl ist durch chronische Krankheiten auf flexibles Arbeiten angewiesen. Und sie weiß um die Gefahren, die aus einem „sexistischen Mobilitätssystem“ heraus entstehen. „Für Frauen beispielsweise ist es erschreckend normal, nach einer Party die Bahn zu meiden, weil die nicht sicher ist. Oder auf dem Heimweg Telefonate vorzutäuschen und schneller zu laufen, aus Angst, verfolgt zu werden.“

Gleichzeitig betont Diehl, dass sie in vielerlei Hinsicht Privilegien genieße, die andere Menschen nicht hätten. Für ihr Buch spricht sie mit einer trans Frau, die öffentliche Verkehrsmittel meidet. Sie hört den Eltern eines Kindes mit Trisomie 21 zu, die ihren Sohn nicht mit dem Fahrrad transportieren können, weil sein Muskeltonus zu schwach ausgeprägt ist, um die Erschütterungen der Radinfrastruktur verkraften zu können. Sie trifft eine alleinerziehende Krankenschwester, die nach ihrem 24-Stunden-Dienst eigentlich nicht mehr hinterm Steuer sitzen will, es aber muss.

So macht Diehl jene sichtbar, die von Mobilität strukturell ausgeschlossen werden: „Es zeigt die Dysfunktionalität unserer Gesellschaft und wie das Patriarchat auf die Mobilität wirkt.“ Die Wahl, wie sie unterwegs sein wollen, hätten viele nicht. Es sind die oft persönlichen Geschichten, die Diehl antreiben, die passenden Lösungen zu finden.

Fehlende Diversität bei Mobilität

„Mobilität und Städte werden in Deutschland seit den 1950er Jahren autozentriert geplant“, meint Diehl. Sie selbst besitzt kein Auto, hat nie eines besessen. Die Fahrten, die sie per Carsharing coronabedingt zu ihren Eltern macht, beschreibt sie als „Fahrten der Hölle“. Dabei sei die Frage nach der Privilegierung des Autos nicht nur eine Frage des Verkehrs, sondern auch eine Frage danach, wie der öffentliche Raum genutzt und verteilt wird. „Ich habe genauso viel Recht darauf, wie jemand, der ein Auto besitzt“, stellt Diehl klar. Umgebaute Bullies und

Wohnwagen gehörten für sie nicht in dritter Reihe abgestellt, sondern auf einen bewachten Parkplatz vor den Toren der Stadt. Als Radfahrerin nimmt die Hamburgerin deutlich weniger Raum ein, wird aber dennoch permanent bedrängt. „Ich habe genug Selbstbewusstsein, um einfach stumpf auf der Straße zu fahren, auch wenn ich angehupt oder mit dem F-Wort beschimpft werde“, so Diehl. „Viele andere Frauen tun das längst nicht mehr und schon gar nicht Menschen mit einer mehrfachen Marginalisierung.“

Der öffentliche Raum sei nicht gleich verteilt, wenn Menschen sich in Bus und Bahn vor transfeindlicher oder rassistischer Gewalt fürchten müssten und diese deshalb meiden. Er sei nicht gleich verteilt, wenn in öffentlichen Verkehrsmitteln Plätze für Kinderwagen fehlten oder ganze Quartiere nicht barrierefrei gestaltet würden.

Gleichzeitig sind viele Menschen immer noch auf das Auto angewiesen, weil es keine Alternative für den Weg zur Arbeit oder zur Nahversorgung gibt – und gerade in ländlichen Räumen ist der öffentliche Verkehr schlecht ausgebaut und andere Angebote fehlen. Ausgeschlossen von sozialer Teilhabe sind laut Diehl all jene, die sich kein Auto oder gar keinen Führerschein leisten können. Auch hier sieht sie mehr Diversität als Ausweg: „Ich glaube, dass es allen Gremien – nicht nur in der Politik – guttun würde, ein Abbild der Gesellschaft zu sein.“ Die Homogenität solcher Gruppen sieht sie als Problem. Diehl hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, Menschen an einen Tisch zu bringen, deren Probleme nicht gehört werden. Partizipation ist für sie „ein Ernstnehmen von Minderheiten“. Durch den Austausch werde letztlich auch die Mehrheit profitieren.

Schnelle Fortschritte im Ausland

Ihren Optimismus schöpft Diehl daraus, dass sie die Mobilitätskrise für selbstgemacht und umkehrbar hält. Sie drängt auf neue Arbeitsweisen, die nicht nur mobil, sondern auch angepasst an individuelle Bedürfnisse sind. Leerstehende Autohäuser auf dem Land ließen sich in Nahversorgungszentren verwandeln, meint Diehl. Die Verkaufsfläche würde sie mit Büros, Cafés und Läden ersetzen. Diehl sieht einen Vorteil darin, Angebote aus den Städten in die ländlichen Räume zu übertragen. Mit E-Scootern oder Leihfahrrädern könnte der Weg zur nächsten Bus- oder Bahnhaltestelle überbrückt werden. Und Coworking mache gerade in infrastrukturell schwächeren Gegenden Sinn, um Arbeit auch dort flexibler zu gestalten. „Aktuell sind ländliche Räume aber zu oft geprägt von schlechtem Internet, schlechter Nahversorgung und schlechten Mobilitätsalternativen.“

Hoffnung aber lasse der Blick in andere Städte und Länder aufkommen, in denen sich in Sachen Mobilität deutlich mehr bewegt als hierzulande. In Paris beispielsweise setzt Bürgermeisterin Anne Hidalgo ihr Konzept der 15-Minuten-Stadt um. Die Idee: lange Wege zwischen Wohnen, Arbeit, Bildung, Freizeit vermeiden und so die Lebensqualität verbessern. Alle wichtigen Anlaufstellen im Quartier sollen innerhalb einer Viertelstunde erreichbar sein. Paris soll nicht nur fahrradfreundlich, sondern auch grüner werden.

Hidalgo machte das Seine-Ufer zudem zur autofreien Zone und plant in den nächsten sechs Jahren die Abschaffung von über 70 000 Parkplätzen. „Diese Geschwindigkeit der Veränderung ist genau richtig“, lobt Diehl dieses teils umstrittene Vorgehen in der französischen Hauptstadt. „Die Menschen in Paris werden erleben können, welchen Mehrwert Veränderung hat und dass sie keinen Verlust bedeutet.“

Auch Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, für die Diehl beratend tätig ist, strebt eine autoarme Zukunft an, nicht zuletzt wegen der Verbindlichkeit des Pariser Übereinkommens. Im Nachbarland kooperieren Staatsbahn und Fluglinien, damit Suchmaschinen Zugverbindungen zuerst anzeigen, um Inlandsflüge künftig zu minimieren.

Veränderung beobachtet Diehl auch in Deutschland. Initiativen wie die 42 Radentscheide des Bündnisses Bundesrad zeigen ihr, „dass das Engagement vieler Menschen Veränderung bringen kann“. Sichtbarkeit spiele eine entscheidende Rolle, um auch politisch Handelnde mit solchen Forderungen zu erreichen. „Anzuerkennen, dass wir als Privatpersonen viel erreichen können, heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass wir schweigen, sondern laut werden, nerven, Bündnisse schließen und Politik von unten bewegen“, erklärt Diehl. Greta Thunberg sei das beste Beispiel dafür, wie es funktionieren könne. Diehl ist überzeugt: „Die Zukunft beginnt heute.“

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!

Noch mehr lesen

Die Masken fallen — HoGeSatzbau

Die „Hooligans gegen Satzbau“ sind aus den sozialen Netzwerken nicht wegzudenken. Doch nach acht Jahren löschen sie sich selbst. Wer steckt hinter den Sturmhauben und wie geht es weiter? Zu Besuch bei bekannten Unbekannten.

Awareness statt Bizeps — United Security

„Du kommst hier nicht rein!“ Aggressiv auftretende, muskelbepackte Männer als Türsteher gibt es viele. Die linke Sicherheitsfirma United Security will zeigen, dass es anders geht. Über eine Nacht an der Tür.

Fließend Wasser — Dominik Bloh

Wie hart das Leben auf der Straße ist, weiß Dominik Bloh aus eigener Erfahrung. Mit einem markanten Duschbus gibt er wohnungslosen Menschen in Hamburg seit Beginn der Corona-Pandemie ein Stück verlorengegangener Würde zurück.

Zimmer im Freien — Lisa und Timo Gelzhäuser

Die Hälfte des deutschen Waldes ist in privater Hand. Doch Schädlinge und die Klimakrise lassen die weiten grünen Flächen kahler werden. Lisa und Timo Gelzhäuser bauen aus ihrem Schadholz Tiny Houses.

Rettung aus der Luft — Sabrina von Augenstein

Jedes Jahr werden beim Mähen der Wiesen rund 100 000 Rehkitze verletzt oder sie sterben. Mit ihrer Drohne schwebt Sabrina Augenstein deshalb schon frühmorgens über die Felder und bewahrt Wildtiere vor dem Tod.

Gefängnis ohne Gitter — Tobias Merckle

Eine Alternative zum Gefängnis ganz ohne Zellen, Gitter und Mauern. Was nach einer Utopie klingt, hat Tobias Merckle Wirklichkeit werden lassen: mit einer familienähnlichen Einrichtung für jugendliche Straftäter.