Gesundheit im kranken System — Poliklinik Veddel

Diskriminierungen und Armut machen krank. Die Poliklinik in Hamburg-Veddel versorgt daher einen ganzen Stadtteil mit medizinischen und psychologischen Angeboten und setzt sich für bessere Wohnverhältnisse ein.
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Text: Jasper von Römer — Foto: Peter van Heesen

Ein halbrunder Vorhang am Eingang, dahinter ein großer Raum mit Sitzgelegenheiten und einem Tresen, an den Wänden großformatige antirassistische und feministische Plakate. Was nach autonomen Zentrum klingt, ist ein Gesundheitszentrum im Hamburger Stadtteil Veddel. Verteilt auf drei beieinander liegende Standorte arbeiten hier Menschen aus unterschiedlichen Professionen zusammen: Allgemeinmedizin, Forschung, Psychologie, Psychotherapie, Soziale Arbeit, Community Health Nurses und zwei Hebammen.

„Wir treffen uns einmal in der Woche zur Fallbesprechung, um unserem interdisziplinären Ansatz gerecht zu werden“, sagt Madeleine Does, eine von zwei Sozialarbeiterinnen in der Poliklinik, die schon seit 2017 besteht. In den gemeinsamen Runden würden einerseits Fälle besprochen, die in mehreren Fachbereichen versorgt werden, was häufig vorkomme. Andererseits gebe es regelmäßige Sprechstunden, in denen die zu behandelnden Personen mit den jeweiligen Fachbereichen einen Plan für die weitere Behandlung entwickelten.

Dass jene, die medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, auch mitbestimmen könnten, sei einer der entscheidenden Unterschiede der Poliklinik zu herkömmlichen Krankenhäusern und ärztlichen Praxen. „Anstatt das medizinische Fachpersonal alleine entscheidet, wie vorgegangen wird, versuchen wir gemeinsame Entscheidungsprozesse zu gestalten“, erklärt Does. „Wir statten die Person mit den möglichen Vorgehensweisen und den dazugehörigen Informationen aus und begleiten sie auf dem Weg der Entscheidungsfindung.“

Dieses Konzept des räumlich zusammengelegten Arbeitens, um verschiedene medizinische Fachbereiche eng ineinandergreifen greifen zu lassen, hat seinen Ursprung in der DDR. Das Netzwerk heutiger Polikliniken in Deutschland greift diesen Ansatz auf und entwickelt ihn weiter, heißt es in den sozialen Netzwerken. So werden beispielsweise auch Menschen ohne Krankenversicherung versorgt – im deutschen Gesundheitssystem eher die Ausnahme.

Da es in Hamburg-Veddel seit zwei Jahren keine andere ärztliche Praxis gibt, lässt sich der Bedarf der 4 000 Bewohnenden nur unter großen Anstrengungen decken. Zusätzlich kämen immer wieder auch Menschen aus anderen Hamburger Stadtteilen und sogar aus entfernten Bundesländern zur offenen Sprechstunde. Nicht immer allerdings könne die Poliklinik sie auch versorgen und verweise dann auf andere Beratungsstellen.

„Wir arbeiten nach dem Verständnis, dass nicht nur das Verhalten krank macht, sondern auch die Verhältnisse, in denen Menschen leben“, erklärt Madeleine Does einen Grundsatz ihrer Arbeit. Deshalb sei es unabdingbar, die einzelnen Krankheitsursachen der Menschen zu ermitteln und präventive Maßnahmen vorzunehmen. Eine der häufigsten Ursachen und prekärsten Themen in Veddel seien die Wohnverhältnisse. „Einmal haben sich Leute direkt aus den Häuserblocks bei uns in der Praxis über asthmatische Symptome beschwert.“

Auf Nachfrage, wie die Betroffenen denn wohnen würden, sei schnell klar geworden, dass die Wohnungen schimmelten. Daraufhin habe sich eine Kollegin mehr und mehr dem Bereich Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit angenommen. Durch die Gründung einer Initiative, die die Belange der Mietenden bündelt, sollen auch die betroffenen Wohnungen saniert werden.

Unersetzlich im Viertel

Madeleine Does arbeitet seit fünf Jahren in der Poliklinik und übernimmt mit einer anderen Kollegin die Sozial- und Gesundheitsberatung. Und auch abseits ihres beruflichen Tuns setzt sie sich im Privaten für politische Themen rund um soziale Gerechtigkeit ein. „Ich habe gemerkt, dass ich mich mehr mit Antirassismus und Bleiberecht beschäftigen will. Deshalb bin ich im Dezember dem Vorstand des Hamburger Flüchtlingsrats beigetreten.“ 

Neu ist ihr Engagement gegen Rassismus aber nicht, denn auch in der Poliklinik unterstütze sie schon länger das Präventionsprojekt Romani Kafava. Der gleichnamige Verein bietet ein selbstorganisiertes Beratungsangebot für Rom*nja und Sinti*zze in den Räumlichkeiten eines befreundeten Stadtteilkulturzentrums an. Die Sozialberaterin Zumreta Sejdovic hat den Verein gegründet: „Ich berate viel übers Telefon und jeden Dienstag in unserem Café. Ich kenne fast alle Menschen persönlich. Das ist alles sehr eng und familiär auf der Veddel.“

Gerade Neuankommende seien angewiesen auf Übersetzung und Beratung im Umgang mit dem Jobcenter, der Ausländerbehörde oder dem Jugendamt. Für Sejdovic ist das Alltag. Immer wieder werden Anträge gestellt und fast immer würden diese abgelehnt werden. „Wir haben in zehn Jahren fünf Leuten eine Arbeitserlaubnis erkämpft“, sagt die 55-Jährige.

Seit der Eröffnung der Poliklinik arbeitete Sejdovic anfangs ehrenamtlich als Übersetzerin und war zugleich Multiplikatorin und Bindeglied zwischen der Praxis und dem Stadtteil. Später wurde sie als Beraterin angestellt. Weil sie damals selbst auf der Veddel wohnte und im Stadtteil bekannt war, hätten viele schnell Vertrauen gegenüber der Praxis aufgebaut. „Viele Roma warten draußen, bis ich rauskomme und sie nach drinnen begleite. Wenn ich dabei bin, fühlen sie sich sicherer“, fasst Zumreta Sejdovic zusammen.

Der Rassismus, den viele Rom*nja in medizinischen Kontexten erlebten, sei enorm, das weiß auch Madeleine Does. „Ich würde niemals sagen, dass Menschen bei uns keinen Rassismus erleben, doch ich glaube, dass hier eine respektvolle Grundhaltung zu spüren ist.“ 

Zumreta Sejdovic fühle sich in ihrer Arbeit manchmal wie in einem Teufelskreis: Aktuell etwa gebe es zwar Fördergelder, die könnten allerdings nicht auf das Vereinskonto überwiesen werden, weil es ein solches gar nicht gibt. Vor fünf Jahren bekam sie einen Aufenthaltstitel, der letztes Jahr abgelaufen ist. Seitdem hat sie eine Fiktionsbescheinigung und kann selbst kein Konto eröffnen. Auf dem Papier gilt Sejdovic als staatenlos. „Auch meine Kinder haben nur eine Duldung und können deshalb keine Ausbildung beginnen, obwohl sie hier geboren sind und das auch gerne wollen. Es ist so, als stünden wir an einem Rand und könnten nicht weiter vorwärts gehen“, beschreibt Zumreta Sejdovic. Einen Rechtsbeistand könne sie sich nicht leisten: „Staatenlose zu vertreten, das bedeutet schwierige Arbeit für wenig Geld.“

Auf vielen Ebenen erlebe Sejdovic den gleichen Alltag wie viele der Menschen, die sie berät. Ein Umstand, der sie zwischen Verzweiflung und Kraftquelle zum Weitermachen pendeln lasse. „Nach jahrzehntelangem Ehrenamt hätten sie dir schon längst einen deutschen Pass geben und dich zur Ehrenbürgerin auf Lebenszeiten ernennen müssen“, sagt Kollegin Does.

Begrenzte Ressourcen

In vielen größeren Städten Deutschlands haben sich in den vergangenen Jahren Polikliniken und andere Gesundheitskollektive gegründet. Ihr Anspruch als Bewegung sei es, neben dem täglichen Versorgungsangebot Lobbyarbeit zu betreiben und mit der Politik zu verhandeln, sagt Madeleine Does. Mit dem Polikliniksyndikat, das letztes Jahr entstand, um die einzelnen Kliniken zu vernetzen, soll gemeinschaftlich Druck auf Bundesebene ausgeübt und für eine bessere Finanzierung der Gesundheitszentren gestritten werden.

Und in Hamburg wurden Sejdovic und eine Kollegin von der Sozialbehörde eingeladen, um zusammen mit anderen Organisationen und staatlichen Institutionen ein Strategiepapier gegen Antiromaismus zu entwickeln. Grundsätzlich bewege sich die Poliklinik Veddel mit ihren Anliegen immer wieder in einem Spannungsfeld: „Es kann schon vorkommen, dass Kollektivmitglieder in der Roten Flora auf einem Podium über ‚Revolutionäre Stadtteilarbeit‘ sprechen, während andere Mitglieder im Hamburger Rathaus beim Sektempfang unsere Vision mitteilen, um unsere Stellen zu erhalten oder neue Projekte zu finanzieren.“

Die Förderanträge für den Verein Romani Kafava würden jedoch sehr oft abgelehnt. Auch die finanzielle Absicherung der Klinik sei nur durch kontinuierliche Verhandlungen möglich – und das, obwohl die Hälfte aller Menschen, die in Veddel wohnen, allein von der Klinik versorgt würden. Außer einer Apotheke gebe es keine andere gesundheitsversorgende Anlaufstelle im Stadtteil. Das mache die Poliklinik unverzichtbar. Trotzdem teilen sich fünf Mitarbeitende weiterhin zwei Vollzeitstellen, weil das Geld für mehr nicht reiche.

Dass neben der finanziellen Ausstattung auch die nötige Wertschätzung fehle, sei für Does mittlerweile zweitrangig. „Mir geht es um die Ausfinanzierung. Ich will sichere Stellen für mich und das Team.“ In Aussicht stünde zumindest ein Neubau, der aktuell entwickelt werde. So würden die jetzigen drei Standorte wieder in einem Gebäude aufgehen. Gleichzeitig würden die einzelnen Projekte endlich eigene Räumlichkeiten bekommen.

Dass Armut krank macht, ist schon länger bekannt: Studien und Indexe bestätigen das. Der Morbiditätsatlas kam 2013 zum Ergebnis, dass die Lebenserwartungen von Menschen aus unterschiedlichen Hamburger Stadtteilen deutlich variieren. „Menschen, die in Blankenese wohnen, werden durchschnittlich zehn Jahre älter als Menschen aus Veddel“, fasst Does zusammen. Dennoch stellt die Poliklinikbewegung mit ihrem Ansatz, Krankheitsursachen in den Lebensumständen der Betroffenen zu untersuchen, noch immer eine Ausnahme dar.

Bei all dem politischen Kampf und der ständigen Auseinandersetzung mit marginalisiertem Leben, erinnert sich Madeleine Does daran, wie dankbar sie Zumreta Sejdovic dafür ist, dass sie miteinander lachen und träumen können. „Ich bin deine Sozialarbeiterin und unterstütze bei behördlichen Problemen. Trotzdem sind wir Kolleginnen, Genossinnen und Freundinnen“, beschreibt Does die Beziehung zwischen ihnen.

Für die beiden ist ein fürsorgliches Miteinander und selbstverständliches füreinander da sein gesundheitsrelevant und entscheidend, um ein gutes Leben zu führen: „Ohne gezwungen zu werden in einer verschimmelten Wohnung leben zu müssen oder sich jahrelang den Rücken buckelig arbeiten zu müssen für schlechten Lohn. Für diese Gesundheit kämpfen wir!“

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