Nonspiration — Kolumne Luisa L’Audace

„Ohne Instagram und TikTok wüsste ich wahrscheinlich bis heute nicht, dass ich Autistin bin und ADHS habe.“ Warum das Internet meist unsere einzige Möglichkeit ist, um uns selbst zu helfen. Eine Einordnung.
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Text: Luisa L’Audace — Foto: Benjamin Jenak

„Ohne Instagram und TikTok wüsste ich wahrscheinlich bis heute nicht, dass ich Autistin bin und ADHS habe.” Es ist eine Aussage, auf die sich so manche Journalist*innen nur so stürzen würden, um das Narrativ der gerne belächelten „Modediagnosen via Social Media“ weiter zu befeuern. Warum dies in Wahrheit aber nur ein Armutszeugnis für unser Gesundheitssystem darstellt, möchte ich einmal klarstellen.

Ich wurde bereits mit einer weiteren sichtbareren Behinderung geboren, sodass jede Auffälligkeit, die auf Neurodivergenz hätte schließen lassen können, schon früh auf jene Behinderung geschoben wurde. Ich galt schon immer als „spezielles Kind” – das mit den irrationalen Ängsten, Zwängen und Problemen bei der sozialen Interaktion. Dabei sprach ich viel, manchmal sogar unerträglich viel, das zumindest erzählt meine Familie.

Jedoch fiel es mir schwer, in gewissen Situationen die Regeln zu verstehen, die für neurotypische Menschen so intuitiv sind, dass sie diese meist nicht einmal als solche wahrnehmen. Dieses Zwischen-den-Zeilen-lesen wollte mir oft einfach nicht gelingen und meine Bedürfnisse zu kommunizieren, schien wie ein unlösbares Rätsel. Stattdessen zog ich mich zurück oder brach ohne ersichtlichen Grund weinend zusammen.

Mein Jugendzimmer versank im Chaos. Darunter litt ich sehr und dennoch war ich nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Bei Ärzt*innen-Besuchen war mein niedriges Gewicht ständig Thema. „Luisa isst eigentlich ganz normal, wenn sie denn isst. Sie ist nur zu faul, sich etwas zu Essen zu machen“, hieß es dann oft. Dabei waren das schlichtweg Anzeichen dafür, wie sehr es mich überforderte, den kleinen und großen Aufgaben des Tages nachzukommen.

Diese alltäglichen Überforderungen und viele andere Symptome wurden von Psycholog*innen und Psychiater*innen mit verschiedensten Diagnosen begründet, mit denen ich mich aber nie vollständig hatte identifizieren können. Doch auf Autismus oder ADHS kam niemand. Damit bin ich aber längst nicht allein. Gerade mehrfach marginalisierte Personen und FLINTA* fallen bei der Diagnostik bis heute oft durchs Raster und lernen früh, sich möglichst neurotypisch zu geben und eigene Anforderungen zu unterdrücken, um weniger Ableismus zu erfahren. Sie tun das, um schlichtweg in diesem System überleben zu können – auch „Masking” genannt.

Auch ich wurde schnell Profi darin. Dadurch allerdings und aufgrund der Tatsache, dass die Diagnostikkriterien bis heute oft nur auf cis männliche Kinder zugeschnitten sind, blieben die wahren Gründe dafür, dass ich jeden Tag auf Barrieren stieß, lange im Dunkeln. Und dass mein Empfinden und Verhalten nicht dem eines kleinen autistischen Jungen entspricht, ist nun wirklich kein Wunder. Gerade die Kombination zwischen Autismus und ADHS kann eine Kategorisierung der Symptome weiter erschweren. Schließlich sind sie in vielen Bereichen so gegensätzlich, wie sie nur sein könnten. „In mir kämpfen zwei Seiten und ich kann nie beide zufriedenstellen“, sagte ich bereits Jahre bevor ich meine Diagnosen erhielt.

Ich hatte nicht nach diesen Diagnosen gesucht und auch als ich durch die Aufklärungsarbeit von Betroffenen lernte, wie falsch unsere Vorurteile gegenüber Autismus und ADHS sind und wie sehr ich mich mit ihren Erfahrungen identifizieren kann, wollte ich es erstmal nicht wahrhaben. Zu groß war die Angst, sich dieser großen Unbekannten zu stellen und in diesem Zuge noch mehr Ableismus zu erleben. Von wegen „Modeerscheinung”! Doch je mehr Aufklärungsarbeit ich von Betroffenen auf Social Media konsumierte, desto mehr erhärtete sich der Verdacht und ich fühlte mich endlich angekommen. Alles ergab plötzlich Sinn!

Als ich mich schließlich um die Diagnostik bemühte, stieß ich jedoch größtenteils auf verschlossene Türen: „Unsere Warteliste ist über zwei Jahre lang.” Oder: „Unsere wird frühestens in einem Jahr wieder aufgemacht.” Es war mir also vorerst einfach nicht möglich, die klinische Diagnostik zu durchlaufen. Masking und das Unterdrücken Neurodivergenz bedingter Anforderungen sind massiv gesundheitsgefährdend und können sogar lebensverkürzend sein.

Deshalb kann ich nur entschieden mit dem Kopf schütteln, wenn Außenstehende sogenannte Selbstdiagnosen abwerten und belächeln. Sind diese doch oft der erste Schritt und für viele Betroffene die einzige Möglichkeit, sich mit ihrer eigenen Lebensrealität auseinandersetzen zu können, Barrieren auszumachen und ihren eigenen Bedürfnissen endlich nachkommen zu können, während sie vom Gesundheitssystem im Stich gelassen werden.

Nach ausgiebiger Recherche und monatelanger Resignation fand ich schließlich eine auf Neurodivergenz spezialisierte Psychologin, bei der ich als Selbstzahlerin nach „nur“ sieben Monaten Wartezeit die Diagnostik durchlaufen konnte. Den hohen dreistelligen Betrag, der dafür nötig war, kratzte ich irgendwie zusammen. Und wenig überraschend erhielt ich wenig später beide Diagnosen und auch wenn es ein unvergleichliches Gefühl ist, endlich zu wissen, wo die Ursache für all das liegt, schmerzt es mich, wenn ich daran denke, wie viel früher gewisse Anpassungen hätten getroffen werden können, wie sehr es geholfen hätte, eher zu verstehen, warum mein Hirn so funktioniert, wie es funktioniert und dass dies gar nichts Negatives ist. Wie viel besser würde ich mich und meine Anforderungen heute kennen, hätte ich mich nicht knapp 27 Jahre lang unter einer Maske verstecken müssen?

Anstatt so ableistische Aussagen wie „Laut Tiktok haben doch jetzt alle Autismus und ADHS“ zu treffen, sollten wir uns also lieber mal fragen, warum es offenbar notwendig ist, sich im Netz über diese Diagnosen zu informieren und wie es sein kann, dass sich so viele Menschen erst durch die Eigeninitiative Betroffener endlich verstanden fühlen, nachdem sie zuvor einfach durchs Raster gefallen waren.

Was sagt es über unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem aus, wenn Eigenrecherche oft der einzige Weg ist, um Klarheit zu finden, während uns die klinische Diagnostik größtenteils verwehrt bleibt? Und was sagt es über sie aus, wenn sie nun auch diesen Weg abwerten, ihm die Legitimation absprechen und fordern, dass wir unsere Anforderungen weiter unterdrücken, anstatt endlich für uns selbst einzustehen?

Luisa L’Audace ist Inklusionsaktivistin und klärt auf Social Media über die Lebenswelten behinderter Menschen auf – und darüber, welche Erfahrungen sie mit Ableismus machen.

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