Zu den Sternen — Susanne Starkmuth

Viele Schwangerschaften enden mit einer Fehlgeburt. Und doch spricht kaum jemand darüber – aus Schuld oder Scham. Susanne Starkmuth hat im Netz einen Ort geschaffen, an dem sich Betroffene zur Seite stehen.
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Text: Charlotte Herrmann — Foto: Martin Lamberty

Der Verlust kommt plötzlich. Ein bisschen Blut in der Unterhose, ein Ziehen im Unterbauch. Oder auch: „Tut mir leid, ich kann keinen Herzschlag mehr finden.“ Bevor alles angefangen hat, ist es auch schon wieder vorbei. Wenn eine Schwangerschaft unfreiwillig endet, vor der 24. Schwangerschaftswoche oder zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind unter 500 Gramm wiegt, lautet die ärztliche Diagnose: „Fehlgeburt“.

Doch Betroffene stören sich oft an dem Begriff, sagt Susanne Starkmuth, „weil darin das Wort ‚Fehler‘ vorkommt. Die Interpretation, die ich verwende, ist: Dass es eine Geburt ist, nach der jemand fehlt.“ Emotionale Bilder helfen, der Situation die angemessene Bedeutung zu geben – und sie spenden Trost. „Sternenkinder“, so werden Fehlgeburten deshalb auch genannt. „Ein Kind, das direkt nach der Geburt wieder zu den Sternen reist“, beschreibt Starkmuth.  

Susanne Starkmuth weiß, wovon sie spricht. Sie ist Gründerin des „Fehlgeburt Forums“ und selbst betroffen. Insgesamt dreimal wird ihr eine „Fehlgeburt“ diagnostiziert, zweimal verliert sie ein Kind in der neunten, einmal in der 16. Schwangerschaftswoche. Sich damit jemandem anzuvertrauen, entpuppt sich als schwierig: „Ich hatte diese typische Unbeholfenheit, die ja häufig mit solchen unangenehmen Themen entsteht. Bei allem, was mit Tod zu tun hat, gibt es Berührungsängste. Das gab es in meiner Familie natürlich genauso. Da hatte ich dann auch nicht das Gefühl, vollumfänglich aufgefangen oder verstanden zu werden.“

Viele Themen, die die Gesundheit von Frauen und Menschen mit Uterus betreffen, sind immer noch ein Tabu – in der Öffentlichkeit genauso wie im Privaten: Schwangerschaftsabbrüche, Fehlgeburten, Endometriose. Neben dem gesundheitlichen Risiko führt die Unwissenheit oft zur Schocksituation: „Die meisten erwischt es dann eiskalt”, weiß Susanne Starkmuth. „‚Jetzt bin ich die einzige, der das widerfährt, das habe ich doch im Bekannten- oder Freundeskreis noch nie gehört.‘ Doch das stimmt einfach nicht. Du bist dann eine von ganz vielen.“

Tatsächlich erlebt jede dritte bis siebte Frau oder Person mit Uterus in ihrem Leben eine Fehlgeburt. 20 bis 30 Prozent aller Schwangerschaften enden unfreiwillig, bevor das Kind überhaupt lebensfähig ist. Dabei ist die Dunkelziffer vermutlich nochmal höher. Denn: Die meisten Fehlgeburten passieren, ohne dass es die Betroffenen überhaupt merken. Das ist dann der Fall, wenn sich die befruchtete Eizelle nicht einnisten konnte. Treten im Anschluss Blutungen ein, die den Abgang der Eizelle markieren, erregt das nicht weiter Aufsehen – eine verspätete Periode halt. Andere hingegen trifft es wie ein Schlag.

Die Welt aus den Fugen

Es sind dann die immer gleichen Fragen, die sich die Betroffenen stellen: Warum ist mir das passiert? Was habe ich getan? Bin ich zu heiß baden gewesen oder habe ich was falsches gegessen? War ich in letzter Zeit zu gestresst? Habe ich zu viel Sport getrieben? Und auch: Bin ich noch Frau genug? Unmittelbar nach einer Fehlgeburt setzt das Gedankenkarussell ein, sagt Susanne Starkmuth. Nicht selten sind es Schuld- und Schamgefühle, die belasten. Von dem Gefühl, versagt zu haben, würden viele Betroffene berichten, sagt Starkmuth. Sie kennt all diese Gedanken, die über einen hereinbrechen: „‚Ich bin nicht normal, ich bin nicht richtig so. Ich hab das einfachste der Welt nicht geschafft. Ich habe kein Kind austragen können.‘“

„Menschen suchen die Schuld bei sich“, meint Susanne Starkmuth. Dabei können die Gründe für eine Fehlgeburt vielfältig sein. Und vor allem: Sie haben in den wenigsten Fällen etwas mit dem Verhalten der Schwangeren selbst zu tun. Es war eben nicht die eine Yoga-Übung oder der zu schwere Einkaufsbeutel, die eine Fehlgeburt verursachen. Oft liegen dem genetische Defekte zugrunde, also zufällige Fehler in der Chromosomenzahl und Chromosomenstruktur. Wenn ein Embryo also nach sogenannten spontanen Mutationen kaum überlebensfähig sein wird, beendet der Körper die Schwangerschaft manchmal selbst. Dafür ist niemand persönlich zur Verantwortung zu ziehen. „Die Natur selektiert aus“, beschreibt Susanne Starkmuth. „So kommt nicht jede Schwangerschaft zu einem Ende.“

Zu wissen, dass eine Fehlgeburt nicht die eigene Schuld ist, könne tröstlich und vor allem entlastend sein. Starkmuth ist sich sicher: „Fehlgeburten gehören leider zum Kinderwunsch und zur Schwangerschaft dazu. Es ist ein Schicksalsschlag, mit dem du rechnen musst, weil nicht immer das perfekte Ei und das perfekte Spermium aufeinandertreffen, sondern bei der Verschmelzung und Zellteilung Fehler auftreten können. Das lässt sich nicht beeinflussen.“ 

In Einzelfällen kann es sein, dass keine spontane Chromosomenveränderung des Embryos für die Fehlgeburt verantwortlich ist. Zum Beispiel dann, wenn eine Fehlbildung der Gebärmutter vorliegt oder Spermazellen DNA-Schäden aufweisen. Damit genetische, anatomische oder immunologische Erkrankungen, die zur Fehlgeburt führen, behandelt werden können und sich der Kinderwunsch vielleicht doch erfüllt, ist es wichtig, beide Elternteile zu untersuchen. Ob eine solche Diagnostik angestoßen wird, entscheidet das jeweilige ärztliche (Fach-)Personal jedoch selbst. Dann wird zum Beispiel die gesundheitliche Vorgeschichte sowie das Alter der Eltern berücksichtigt. Ganz entscheidend aber ist: Das medizinisches Personal ist angehalten, wirtschaftlich zu arbeiten – und solche Untersuchungen sind teuer. 

Für Betroffene heißt das: Erst nach der zweiten Fehlgeburt lautet die offizielle medizinische Empfehlung, das genetische Material der Eltern eingehend zu beleuchten. Andere körperliche Ursachen sollen, wenn überhaupt, erst nach einer dritten Fehlgeburt geprüft werden. Selbst das muss noch keine Klarheit bedeuten. Bei knapp der Hälfte aller Fehlgeburten können auch im Anschluss keine eindeutigen Gründe zugeordnet werden. Klar, eine Fehlgeburt kann ein unglücklicher Zufall sein. Um ganz beruhigt zu sein, würde eine Diagnostik helfen. Dass das nicht passiert, sei vor allem eine Kostenfrage, erklärt Susanne Starkmuth. 

Das Recht zu Trauern

Damit ein Mensch überhaupt geboren werden kann, muss also erstmal einiges stimmen. Und es hat nichts mit der Leistung oder dem Wert der schwangeren Person zu tun. Das Problem: Längst überholte Rollenbilder, veraltete Narrative von Mutterschaft und was es bedeutet, eine ideale „Frau“ zu sein, sorgen dafür, dass Betroffene nach einer Fehlgeburt das Gefühl haben, sie hätten versagt. Problematisch wird es, wenn das Umfeld kaum Verständnis zeigt.

Die Art der Reaktion hänge auch immer damit zusammen, wer oder was verstirbt, verdeutlicht Susanne Starkmuth. Bei einer frühen Fehlgeburt zum Beispiel ist der Embryo gerade mal so groß wie eine Himbeere. Was sich für die schwangere Person bereits sehr lebendig angefühlt haben mag, weil sie etwa hormonelle Veränderungen spürt und sich der eigene Körper auf die Schwangerschaft einstellt, ist für Außenstehende unsichtbar. Umso weniger können andere dann nachvollziehen, wenn Betroffene nach einer Fehlgeburt trauern.

So werden mit dem Begriff der „entrechteten Trauer“ Situationen beschrieben, in denen Menschen, die einen Verlust erlitten haben, das Recht zu Trauern abgesprochen bzw. nicht zugestanden wird. „Wenn mein Mann stirbt, kann das jeder verstehen und sagt: ‚Natürlich bist du traurig. Das tut mir so leid’“, erläutert Starkmuth. „Aber weil dieses Kind für das Umfeld noch nicht existent war, kommt dann häufig: ‚Mensch, stell dich doch nicht so an, da war doch noch nicht wirklich viel.’“ Dabei stirbt mit einer Fehlgeburt nicht nur das eigene Kind, sondern mit ihm alle Träume und Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft.

Unsensible Kommentare, Unverständnis oder Floskeln wie „Ach, dann probiert ihr es einfach weiter, das nächste Mal klappt es bestimmt!“ machen eine heilsame Kommunikation zunichte. „Das ist ein Teufelskreis“, kritisiert Starkmuth. Am Ende erfährt das Thema kaum Beachtung – zum Leidwesen der Betroffenen. 

Nicht über Fehlgeburten zu sprechen, könne ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen für die Betroffenen zur Folge haben. So weisen Personen etwa in den ersten Monaten danach vermehrt Anzeichen für Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen auf. Das gehört erstmal zum normalen Trauerprozess dazu, sagt Susanne Starkmuth. „Aber es gibt natürlich äußere Einflüsse und auch innere Einflüsse, die dafür sorgen, dass Krankheitssymptome wie Depressionen oder Ängste persistieren können, also bleiben, sich verselbstständigen und wirklich zu einer eigenständigen, ausgebildeten Krankheit werden.“

Mit der Fehlgeburt leben 

Susanne Starkmuth weiß, dass für den psychischen Heilungsprozess neben dem sozialen Umfeld auch die medizinische Betreuung eine wesentliche Rolle spielt. Nach einer Fehlgeburt hat eine schwangere Person üblicherweise drei Optionen: ein natürlicher Abgang, ein durch Medikamente ausgelöster Abgang oder eine medizinisch durchgeführte Ausschabung der Gebärmutter. In den Momenten nach der Diagnose stehen die Betroffenen aber erstmal unter Schock. Dann seien Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit wichtige Erfahrungen, um die Krise bewältigen zu können. „Das Kind ist zwar gestorben, da hatte ich keinen Einfluss drauf,“ sagt Starkmuth, „wie es danach weitergehen soll, liegt in meiner Verantwortung.“

In medizinischen Einrichtungen ist die Realität jedoch häufig eine andere: wenig Empathie, kaum Aufklärung und vor allem der Druck, den toten Embryo möglichst schnell zu entfernen. „Für medizinisches Personal ist es wie Blut abnehmen. Das ist täglich Brot“, sagt Starkmuth. „Da stumpfst du vielleicht auch ab oder kannst es selbst nicht nachempfinden, weil du es selbst nicht erlebt hast.“ In solchen Situationen brauche es vor allem den Kontakt mit anderen Betroffenen, die ähnliches erlebt haben und durchgemachen mussten.

Und auch nach ihren eigenen Fehlgeburten suchte Susanne Starkmuth nach Personen mit ähnlichen Erfahrungen oder einfach nach tröstlichen Worten, wie sie sagt. Doch selbst im Internet gibt es für Thema kaum einen Platz. Viele Schwangerschaftsforen beschäftigen sich nur am Rande mit dem „frühen Ende“. „Das war nicht das, was ich gesucht habe. Ich wollte in einen tieferen Austausch gehen. Da entstand meine Idee, so etwas zu gründen, damit jede betroffene Person sich irgendwo aufgefangen und verstanden fühlt“, erinnert sich Starkmuth. 

Vier Jahre ist es inzwischen her, dass sie die Website „Fehlgeburt Forum“ ins Leben gerufen hat. Hinter ihr liegt jede Menge Arbeit, um sich im riesigen Universum Internet zu behaupten: Überzeugung und Aufklärung, technische Hürden. Am Ende aber zahlte sich ihre Mühe aus. 1104 Personen haben sich bisher im Forum registriert, Tendenz steigend. Hier, in geschützten Sphären des World Wide Web können Betroffene ihre Angst und ein Stück Identität ablegen. Es ist ein bisschen wie Tagebuch schreiben – nur öffentlich. Dass das Ganze virtuell abläuft, hilft: „Ich glaube, die Frauen öffnen sich da teilweise mehr, als gegenüber einer Freundin. Sie schreiben anonym, können so viel mehr Gefühle transportieren, Gedanken offen darlegen, die sie sonst vielleicht eher für sich behalten würden.“ 

Hilfestellung für Praxen

Während es sehr viel mehr Überwindung kosten würde, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen und diese keineswegs immer und jeder Person zugänglich ist, stellt das Online-Forum eine dauerhafte Anlaufstelle dar – das ganze Jahr über, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Inklusive No-Judgement-Policy: „Bei den Betroffenen kommen teilweise Gefühle wie Neid und Eifersucht auf, wenn sie andere Schwangere sehen, wofür sie sich wiederum auch schämen, weil das gesellschaftlich negativ belegte Gefühle sind, die ich nicht haben darf, die aber total normal sind. Auch das wird im Forum thematisiert, ohne verurteilt zu werden.“

Für Starkmuth ist ihre Arbeit auch eine Art Selbsttherapie. Das Forum und die Konfrontation mit dem Thema geben ihr die Chance, mit dem Erlebten umzugehen, aber vor allem anderen Betroffenen etwas mitzugeben, was sie selbst gebraucht hätte: „Austausch, Verständnis und die Möglichkeit, seine Sorgen loszuwerden – das ist eins der heilsamsten Mittel. Das Reden.“

Es seien auch schon Freundschaften unter den Mitgliedern entstanden. Über die Verlust- und Trauersituation hinaus bietet das Forum Platz, sich im „Hibbel-Thread“ auf dem weiteren Weg in Sachen Kinderwunsch und Schwangerschaft austauschen. „Manche Mitglieder sind schon seit zwei Jahren da. Oder sie kommen auch schon das zweite Mal zu uns, weil sie nach der Geburt ihres ersten Kindes einen weiteren Kinderwunsch haben“, sagt Starkmuth. Mit ihrem Engagement kämpft sie gegen Tabus an und klärt über die Häufigkeit von Fehlgeburten auf. Dank des Forums wissen Betroffene jetzt: Sie sind nicht falsch und sie sind auch nicht alleine.

Susanne Starkmuth bringt das Thema aber auch über die Grenzen des Internets hinaus an die Öffentlichkeit. Erst kürzlich hat sie zusammen mit zwei ärztlichen Fachleuten ein Infoblatt zum Thema Fehlgeburten veröffentlicht, das von gynäkologischen Praxen im ganz Land genutzt wird. Zuvor hatte sie sich an zig Krankenkassen gewandt und den Patientenbeauftragten der Bundesregierung kontaktiert. „Niemand fühlte sich zuständig und wollte es machen. Dann habe ich es einfach selbst in die Hand genommen und aufgeschrieben.“ Am liebsten würde sie das Thema Fehlgeburt direkt in den Biologie-Unterricht unterbringen. Und wo es mit ihrem Forum hingehen soll? Susanne Starkmuth lacht. „Da hab ich natürlich große Visionen.“

Ihre eigenen Fehlgeburten liegen mittlerweile Jahre zurück. Alle drei Kinder hat Starkmuth in ihrem Garten begraben. Abschied nehmen, dem verstorbenen Kind einen Ort geben, an dem es seinen Platz hat, das seien wichtige Schritte, um mit dem Erlebten zurechtzukommen. Die Erinnerung aber bleibt. Und manchmal reicht der Blick in den Sternenhimmel. 

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