Aufschrei — Fadumo Korn

Fadumo Korn ist laut gegen weibliche Genitalverstümmelung. Sie hat aus dem unendlichen Leid, das ihr als kleinem Mädchen angetan wurde, einen unbändigen Willen entwickelt, um anderen Betroffenen zu helfen.
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Text: Anne Brockmann — Foto: Johanna Lohr

CN: In diesem Text wird ausführlich über die Verstümmelung von weiblichen Genitalien berichtet. Das könnte für Betroffene und andere belastend oder retraumatisierend sein.

„Ich habe geschrien. Einfach nur geschrien. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob ich es bin, die das gerade erleiden muss, oder sie. Mit einem Mal war mein Trauma wieder da.“ So beschreibt Fadumo Korn den Moment, als sie mit 30 Jahren im TV eine Dokumentation über weibliche Genitalverstümmelung sah und ihre eigene Geschichte wie eine Naturkatastrophe über sie hereinbrach. Als siebenjähriges Mädchen wurde Fadumo Korn in ihrem Heimatland Somalia beschnitten. „Zuerst hat die Dokumentation mich ohnmächtig gemacht. Dann kam die Wut. Wie konnten die Filmschaffenden einfach die Kamera draufhalten, als einem kleinen Mädchen Gewalt angetan wurde, anstatt es zu retten“, fragt sie sich noch heute.

Was einerseits ein grausamer und schmerzerfüllter Abend war, bedeutete andererseits die Initialzündung zu einem löwenstarken Engagement. Denn seither setzt sich Fadumo Korn mit aller Kraft gegen Genitalverstümmelung in afrikanischen Ländern und dem Rest der Welt ein – inzwischen seit fast 30 Jahren. In Deutschland ist weibliche Genitalverstümmelung seit 2013 verboten. Es drohen bis zu 15 Jahre Haft und der Entzug der Aufenthaltserlaubnis – auch falls Mädchen eigens dafür ins Ausland gebracht werden. Aktivistinnen gehen jedoch davon aus, dass Verstümmelungen auch hierzulande stattfinden – im Verborgenen.

Rund 200 Millionen Betroffene von weiblicher Genitalverstümmelung gibt es weltweit. Der Akt der Gewalt ereilt Mädchen und Frauen allerorts in dunklen Räumen oder Hütten, abseits unter Bäumen und in Hinterzimmern. Die Beschneidenden nutzen angeschliffene Eisenteile, Messer, Rasierklingen, Scheren, Glasscherben oder lange Fingernägel, um die Klitoris und die äußeren und inneren Vulvalippen zu entfernen und den Eingang zur Vulva fast vollständig zu vernähen – meistens ohne Betäubung. Die Folgen sind fatal.

Ein Viertel aller Opfer überlebt den Eingriff nicht, viele sterben später an Infektionen. Die Übrigen erleiden meist Begleitverletzungen an Nerven, Arterien und nahegelegenen Organen, immer wieder auch Knochenbrüche oder anhaltende Blutungen. Beschwerden beim Urinieren oder Menstruieren begleiten Betroffene oft ein Leben lang. Menstruationsblut kann durch die fast verschlossene Öffnung nicht austreten und staut sich. Beschneidungen führen häufig zu Sterilität und Inkontinenz, auch wiederkehrende Entzündungen und Zysten sind die Folge brutaler Eingriffe, die unter desolaten hygienischen Bedingungen vorgenommen werden.

Gewalt und Tradition

So war es auch bei Fadumo Korn. Sie ist das Kind einer nomadischen Familie. Und nach der Beschneidung litt sie immer wieder an Entzündungen im Genitalbereich, bis sie irgendwann zu krank war, um bei den Märschen durch die Wüste mit ihrer Familie Schritt halten zu können. Ihre Eltern schickten sie schließlich zu einem wohlhabenden Onkel nach Mogadischu. In der Stadt konnte Korn erstmals eine Schule besuchen, aber ihre gesundheitlichen Beschwerden belasteten sie weiterhin. Die ärztliche Hilfe in Mogadischu war ausgereizt. Mit 15 Jahren kam Korn auf Geheiß ihres Onkels deshalb über Italien nach Deutschland. Als Jugendliche lebte sie bei entfernten Verwandten, später mit eigener Familie in München.

In ihrer bayrischen Wahlheimat war es ein Gespräch mit einer türkischstämmigen Freundin, das ihr bewusst machte, dass Beschneidung nichts Alltägliches, nichts Selbstverständliches ist, das die Religionszugehörigkeit eben mit sich bringt. „Ich habe erfahren, dass meine Freundin nicht beschnitten ist und konnte es kaum glauben, weil ich davon ausgegangen war, dass es für sie als Muslima und Anhängerin des Korans gar keine andere Möglichkeit gibt“, erinnert sich Fadumo Korn. Sehr präsent ist ihr noch immer das Gefühl, betrogen worden zu sein: „Ich habe meine Religion dafür gehasst, dass sie mir das angetan hat und habe dann erfahren, dass die Beschneidung mit der Religion überhaupt nichts zu tun hat.“

Fadumo Korn weiß: So wie ihr es damals ging, geht es noch immer vielen anderen Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt. Sie leben in dem Glauben, dass ihre Religion ihnen den Akt der Beschneidung abverlangt. „Das ist allerdings nicht der eigentliche Grund. Zwar kommen Beschneidungen im Islam, im Christen- und Judentum und im Animismus vor, aber weder die Bibel noch der Koran verlangen danach“, stellt die Aktivistin klar. Vielmehr sei es die Tradition, die dafür sorge, dass sich die Gewalt beinahe unhinterfragt fortsetze. „Sie tun es, weil sie es immer getan haben“, fasst sie zusammen. Die bloße Vorstellung, dass es anders sein könnte, existiere oft nicht. „Es gibt viele Frauen, die ausnahmslos nur beschnittene Frauen kennen.“

Psychologische Hilfe

Die Beschneidung in Somalia gilt als Bekenntnis zu den Traditionen und Werten des jeweiligen Stammes. Dadurch erhalten Frauen gesellschaftliche Anerkennung in ihrer Geschlechterrolle. In Teilen Afrikas werden nicht beschnittene Mädchen als unrein angesehen und dürfen daher bestimmte Aufgaben im Haushalt nicht verrichten, etwa das Zubereiten von Mahlzeiten für Männer. Andernorts markiert die Beschneidung den Übergang vom Kindes- und Jugendalter zum Erwachsensein. Sie wird als Initiationsritus praktiziert.

Den Männern verleiht die Beschneidung Macht und Kontrolle über die weibliche Sexualität. Denn das Lustempfinden der Opfer ist stark eingeschränkt oder gänzlich erloschen und eine Penetration ohne vorheriges Wiedereröffnen der zugenähten Vagina kaum möglich. Und die Verstümmelung ist somit unter anderem ein Garant für die sogenannte Jungfräulichkeit. „Es ist pervers, aber je höher der Grad der Verstümmelung ausfällt, desto höher ist der Wert der Frau und desto höher am Ende das Brautgeld, das die Familie bekommt, wenn ein Mädchen heiratet“, beschreibt Fadumo Korn. Nicht zuletzt stellt die Beschneidung auch ein lukratives Geschäft dar, von dem die Beschneiderinnen ihre Familien ernähren können.

Fadumo Korn geht mit all dem nicht hart ins Gericht, allerdings gut geschult in den Diskurs. „Bildung statt Beschneidung“, so lautet der Slogan des Vereins Nala, den Fadumo Korn 2012 in Frankfurt am Main gegründet hat. Nala ist Kisuaheli und bedeutet Löwin. Der Verein setzt Projekte in Deutschland und im Ausland um. So gibt es in Burkina Faso eine Anlaufstelle für Frauen, die wegen der erlittenen Genitalverstümmelung keine Kinder bekommen können oder eine Totgeburt erlebt haben. Sie erhalten psychologische Unterstützung und auch Aufklärung darüber, was ihnen angetan wurde. „Zum Haus gehört ein großer Garten. Dort können die Frauen arbeiten und lernen. Sie bauen Nutzpflanzen an. Ich bin jedes Jahr dort und lerne immer was dazu, zum Beispiel, dass Paprika am besten im Schatten von Papayas wachsen.“

Beistand vor dem OP

In München leitet Korn eine Mädchengruppe, die den Teilnehmerinnen Selbstvertrauen und Lebensmut vermitteln soll. „Mädchen, die Gewalt oder Missbrauch erleben mussten, haben oft gelernt, sich unsichtbar zu machen. Mit Nala sollen sie sich ihr Gesicht zurückholen“, sagt die Gründerin. Die Mädchen treffen sich bei uns zum Austausch, lernen Selbstverteidigung und unternehmen kulturelle Ausflüge in die Umgebung.

Aktuell kümmert sich Korn um Asho. Die junge Mutter ist längst kein Mädchen mehr, braucht aber trotzdem dringend Unterstützung. Sie lebt als Alleinerziehende mit ihren drei Kindern seit inzwischen sieben Jahren in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete am Münchner Stadtrand und findet keine Wohnung. „Mein ältester Sohn kommt demnächst in die Schule. Er ist in der Geflüchtetenunterkunft zur Welt gekommen und hat keine Idee davon, wie es ist, in einer normalen Wohnung zu leben. Zuhause, das bedeutet für ihn tägliche Schreie, Rassismus und Schlägereien auf engstem Raum“, erzählt Asho verzweifelt.

Wenn sie das Gefühl, nicht mehr weiter zu können, sucht sie Rat bei Fadumo Korn. „Sie kotzt sich dann in ihrer Muttersprache aus, weint bitterlich und holt sich ein bisschen neue Kraft“, berichtet Fadumo Korn und wirkt dabei selbst ratlos, wie Asho das noch länger aushalten soll.

Fadumo Korn begleitet auch Mädchen ins Krankenhaus, die eine operative Wiedereröffnung ihrer Vagina wünschen. Sie hält Hände und wacht am Bett, bis die Narkose nachlässt. „Vor ein paar Monaten erst hat ein Mädchen aus Angst vor dem Eingriff so geschlottert, dass es nicht möglich war, ihr einen Zugang zu legen. Ich durfte mit in den OP-Saal und wir haben alberne Selfies gemacht. Irgendwann ging es.“ Die operativen Möglichkeiten aber sind von Mensch zu Mensch verschieden. Dass die Verstümmelungen häufig von Frauen ohne anatomisches und chirurgisches Wissen vorgenommen werden, kann manchmal ein Vorteil sein, weil die Klitoris nicht vollständig entfernt wurde und eine Rekonstruktion möglich ist. Aktuell entscheiden in Deutschland noch beantragte Einzelfallbeurteilungen über eine Kostenübernahme.

Veränderungswillen

Abgesehen von der Betreuung der Mädchengruppe setzt sich Fadumo Korn hierzulande vor allem auf politischer Ebene für Veränderungen ein. Mit einem Katalog an Forderungen wendet sie sich an politische Verantwortliche. So sollen weibliche Genitalverstümmelungen und ihre Folgen endlich eine Ziffer in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO erhalten. Solange das nicht passiert, können gynäkologisch Praktizierende den Mehraufwand bei Behandlungen von Betroffenen nicht in Rechnung stellen und lehnen diese daraufhin immer wieder ab.

Korn startete mit diesem Anliegen eine Petition, die von 133 000 Menschen unterschrieben wurde. Diese übergab sie im Juni 2020 an die damalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD). Darüber hinaus verlangt sie, dass das Thema Genitalverstümmelung Eingang in die Lehrpläne der Studiengänge Medizin, Psychologie und Pädagogik findet. Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen, dem Sozial- und Erziehungswesen, dem Bildungswesen und auch dem Rechtswesen sollten Aus- und Weiterbildungen zum Thema angeboten werden. Auch müssten weltweit Gesetze geändert werden. So könnte der Gewaltakt selbst oder die Flucht vor Genitalverstümmelung in Deutschland einen Asylgrund darstellen.

„Das alles sind keine Wünsche und keine Vorschläge, sondern Notwendigkeiten, von denen ich erwarte, dass sie anerkannt und umgesetzt werden“, hält Fadumo Korn fest. Sie gibt gern zu, „eine große Klappe“ zu haben und „schlagkräftig“ zu sein. Woher das kommt? „Ich sage nur: vier Brüder“, antwortet sie lächelnd. Durchsetzungsstark sei sie daher schon als kleines Mädchen gewesen. „Ich durfte oft dabei sein, wenn mein Vater unsere Tiere gebrandmarkt hat. Ich wusste, dass es den Tieren furchtbar wehtun wird. Also habe ich meinen Vater dazu gebracht, dass er sich vorher wenigstens bei jedem Tier entschuldigt“, erzählt sie.

Für ihr Engagement gegen weibliche Genitalverstümmelung wurde Fadumo Korn mehrfach ausgezeichnet, beispielsweise mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland. Sie selbst ist gespannt, wohin ihr Dickkopf sie noch führen wird. Als nächstes möchte sie eine Wohnung für Asho und die drei Kinder finden. Und später im Jahr steht noch eine Reise nach Berlin. Dort will Fadumo Korn Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine neuerliche Petition überreichen, damit es bald schon weiter vorangeht.

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