Heimlich Leistungssportlerin — Tuğba Tekkal

Auf dem Bolzplatz kickte Tuğba Tekkal mit den Jungs – gegen die Regeln ihrer Eltern. Auf ihrem Weg in die Fußball-Bundesliga erfuhr sie täglich Rassismus, aber auch das Gefühl von Freiheit. Das gibt sie jetzt zurück.
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Text: Selmar Schülein — Fotos: Benjamin Jenak

Es ist für alle Beteiligten ein riskantes Spiel. Die Geschwister wissen von Tuğbas Doppelleben, decken sie. Die schlammigen Hosen lässt sie zwischen der Wäsche der Brüder verschwinden. Die Schuhe versteckt sie in der Garage einer Freundin. Nur die Eltern – jesidische Kurden, die Ende der Sechzigerjahre nach Deutschland kamen – lässt sie in dem Glauben, dass sie nach der Schule zum Lernen und nicht auf den Bolzplatz geht. Mädchen und Fußball – undenkbar. Verschwitzt und mit Schürfwunden, so kommt Tuğba Tekkal beinahe täglich nach Hause. Das entgeht auch der Mutter irgendwann nicht mehr.

Diese Anfänge einer unwahrscheinlichen Fußballkarriere liegen mittlerweile 30 Jahre zurück. Was damals mit Ängsten und Verboten begann, ist heute – nach mehr als 100 Spielen für den 1. FC Köln – ein Projekt, das geflüchtete Mädchen aus Massenunterkünften freudestrahlend auf dem Fußballplatz zusammenkommen lässt. Tuğba Tekkal hat all das aufgebaut, getrieben von ihrer eigenen Biografie und den Tränen, die sie noch im Aufstiegsjahr in die erste Fußball-Bundesliga der Frauen überkamen. Die Scoring Girls* sind zwischen acht und 18 Jahren und spielen aber nicht nur Fußball. Sie erledigen gemeinsam die Hausaufgaben, trafen schon Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und bekommen in familiären Ausnahmesituationen auch eine Rundumbetreuung samt Wohnungssuche und Behördengängen. Es geht nicht irgendwer mit ins Amt, sondern Tekkal selbst – die ehemalige Bundesliga-Kickerin persönlich.

Im Sommer 2021 ist Tekkal durchgehend für eines der Mädchen erreichbar, über das kurz vorher der Horror der deutschen Asylpolitik hereingebrochen ist: Silva, die als schüchterne 13-Jährige erstmals in einem Bus voll unbekannter Mädchen zu einem Kölner Fußballplatz fuhr und mittlerweile Kapitänin des Teams ist. Die es über das Mittelmeer nach Deutschland geschafft hat, nun die gymnasiale Oberstufe besuchen könnte, im Verein kickt und sogar eine Trainerinnen-Lizenz des DFB vorweisen kann. Diese Silva, die Ärztin werden möchte und Nationalspielerin, soll nun abgeschoben werden. Das ist der Moment, in dem Tuğba Tekkal Anwälte einschaltet und Institutionen kontaktiert, die sich mit solchen Fällen auskennen: „Wir werden mit unserem Menschenrechtsverein HÁWAR.help alles in unserer Macht Stehende tun“, verspricht sie. „Silva dachte, dass das ihre neue Heimat ist. Nach sechs Jahren und mit einer Mutter, die in Deutschland längst Arbeit hat.“

Psychische Tortur in der Schule

Tekkal spricht solche Sätze nicht einfach nur aus. Sie ist mit ihrer Person ein Teil davon. Zu hören ist sowohl die junge Frau, die von der Tribüne Sprüche wie „Da kommt der Dönerspieß!“ ertragen musste, als auch das Mädchen, das durch den Fußball gerade noch so ihr eigenes Leben zu fassen bekam, als es ihr zu entgleiten drohte. Die frühen Jahre mit der verbotenen Fußballleidenschaft verliefen ganz und gar nicht so, wie sich das in einem dramaturgisch durchgestylten Ted-Talk über Selbstbestimmung erhebend inszenieren ließe.

Tekkal heroisiert diese Zeit nicht: „Ich war nicht unbedingt ein starkes Mädchen, das für sich einstehen konnte. Ich war introvertiert, hatte keine guten Schulnoten, habe Mist gebaut.“ Auch ist sie nicht stolz darauf, als Kind oft erst nachts nach Hause gekommen zu sein oder sich mit Jungs geprügelt zu haben. „Ich hatte so viel Wut, habe mich so ungerecht behandelt gefühlt.“ Die Erinnerungen, die bei diesen Sätzen weiter in ihr arbeiten, zeigen, wie kritisch die vielen Selbstermächtigungsgeschichten zu beurteilen sind, die sich in Selbstoptimierungsratgebern so schön vermarkten lassen. Sie bedienen jenes Narrativ, demzufolge das Leben nur mit ausreichend Willensstärke selbst in die Hand genommen werden müsse, um schließlich eine Erfolgsgeschichte mit knallenden Konfettikanonen schreiben zu können.

Nicht nur wälzt diese Erzählung jegliche Verantwortung der Gesellschaft und Schule auf das Individuum ab, das sich selbst zu erfinden hat. Noch schwerwiegender: Sie lässt dabei all die strukturellen Benachteiligungen und Ausgrenzungen unter den Tisch fallen, derer sich gesamtgesellschaftlich eigentlich entschiedener angenommen werden müsste.

Da wäre die Schule zu nennen – für die junge Tuğba kein Ort der Gemeinschaft, kein Ort des Friedens. Ein Mitschüler habe sie in den Schwitzkasten genommen und gesagt, Hitler habe sie vergessen. Als eine Lehrerin der Klasse den Auftrag erteilt, einen Familienstammbaum zu zeichnen, ruft sie Tuğba Tekkal zu: „Du nicht, das würde bei dir zu lange dauern.“ Geschämt habe sie sich damals für ihre Herkunft. Dabei könnte sie so viel berichten von ihren sechs Schwestern und vier Brüdern, dem Leben als Großfamilie in einer kleinen Wohnung und wie sie bei zwei berufstätigen Eltern früh lernt, Verantwortung für die Kleineren zu übernehmen: „Ich habe mit sechs Jahren meinem fünf Jahre jüngeren Bruder die Windeln gewechselt.“

Fußball und Hausaufgabenhilfe

Noch tiefer habe sich ein Erlebnis in der Unterstufe in sie eingeschrieben. Eine Lehrerin habe sie damals mit folgenden Worten aus der Klasse rausgenommen: „Ich möchte ganz ehrlich zu dir sein. Aus dir wird niemals etwas werden, du wirst Putzfrau genau wie deine Mutter.“ Tekkal erinnert sich, wie sie damals mit 13 alleine auf dem Schulflur stand, zur Toilette gegangen ist, dort geweint und sich gefragt hat, ob diese Frau vielleicht einfach Recht haben könnte. Wie hat sich dieses Mädchen nach derartigen Diskriminierungserfahrungen noch eine erfolgreiche Schullaufbahn zutrauen können? Geschweige denn eine Zukunft als Schülersprecherin, die sie Jahre später werden sollte, inklusive toller Noten und Reden vor hunderten Menschen?

Immer neue Studien zur Bildungswirklichkeit in Deutschland belegen, dass solche Fälle von Diskriminierung keine Ausrutscher sind. Schulischer Erfolg ist aufs Engste verknüpft mit der Herkunft und dem Schichthintergrund der Elternhäuser. Leistungsgesellschaft bedeutet eben nicht, dass es nur genug Leistung braucht, um sich Positionen zu erarbeiten. Es bedeutet auch, dass jedes Kind mit unterschiedlichen Ausgangschancen in sein Schulleben startet. Wie ein Wettlauf barfuß gegen Nike Air. Benachteiligungen dieser Art sind im Bildungssystem der Bundesrepublik struktureller Art, was einem Projekt wie Tekkals Scoring Girls* unabhängig vom sportlichen Reiz zusätzlichen Wert gibt.

Die ehemalige Bundesligaspielerin hat ein Sport- und Bildungsprojekt ins Leben gerufen, das durch Gemeinschaftserfahrungen Lebenswege öffnet. Es geht in erster Linie nicht um Fußball und nicht um das gemeinsame Erledigen der Hausaufgaben. Wie die Mädchen lachend um ihre Tuğba herumtanzen, zeigt: Es geht hier um alles. Aber nicht im Sinne eines Ziels, sondern im Sinne des Menschseins. Auf dem Platz können diese Mädchen alles sein, alles tun.

Wie Sport Perspektiven schafft

Tekkal betont, ihre Fußballschuhe seien für sie das Tor zur Freiheit gewesen. Freiheit bedeutet bei ihr dabei nie nur plumpe Selbstverwirklichung, sondern beinhaltet auch ein solidarisches Gemeinschaftsgefühl, das sie als ermächtigende Kraft auch sozioökonomisch benachteiligten Kindern ohne Migrationserschwernisse ermöglichen möchte, die bei den Scoring Girls* gleichermaßen auf dem Platz stehen. Ein Gefühl, das sie in den Schulen vergeblich gesucht hat. Trauen sich die Kinder erstmal auf den Platz, beobachtet Tekkal immer wieder dieselben Effekte: „Sie werden selbstbewusster und stecken sich erstmals ambitionierte Ziele. Der Sport holt die Mädchen aus einer Lethargie heraus, für die sie oft nichts können, weil ihr Leben in den Massenunterkünften oder sozialen Brennpunkten schlicht keine Perspektiven bereithält.“

In ihrem Fußballprojekt erkennt Tuğba Tekkal immer wieder, dass es nicht ausschließlich die familiären Verhältnisse unter der Armutsgrenze, Sprachbarrieren oder kulturelle Klüfte sind, die den Kindern im Wege stehen. Es sind oft die Vorurteile, mit denen ihnen die Gesellschaft begegnet, die sie in ihren zugeschriebenen Rollen gefangen halten. Tekkal hat die Wirkung solcher Erfahrungen am eigenen Leib erfahren. Ältere Damen in der Bahn, die ihre Taschen fester umschlossen, wenn sie näherkam. Ein älterer Herr, der auf die kleine Tuğba mit ihrem neuen Rad zulief und schrie: „Das Fahrrad hast du doch geklaut!“ Ihr Vater musste das Rad später holen, nachdem sie aus Angst weggerannt war.

Rückblickend erkennt sie: „Ich habe irgendwann die Rolle übernommen, die andere von mir erwartet haben.“ Auf der Straße abhängen, keine Hausaufgaben machen, mit den falschen Leuten herumziehen. Selbst der Fußball war von ihrem 13. bis 16. Lebensjahr nicht mehr vorhanden, erzählt sie. „Ich habe mich einfach aufgegeben. Wenn ich etwas gefragt wurde, habe ich immer nur genickt, mein Kopf war immer unten.“

Sozialarbeit abseits des Feldes

Welche Konsequenzen Ressentiments haben können, zeigt sich etwa auch am Beispiel von Silva, der 2021 nach sechs Jahren in ihrer neuen Heimat Deutschland die Abschiebung drohte. Damals in Syrien hatten ihre Eltern die Fußballleidenschaft der Tochter erkannt und ihr nicht ohne Risiko ermöglicht, diesen Sport zu treiben, der muslimischen Mädchen eigentlich streng verboten war. Die Haare hochgebunden und als Junge verkleidet, kickte sie dann auf der Straße. Tekkal kennt viele solcher Beispiele, die zeigen, dass zugewanderte Menschen aus anderen Teilen der Welt ihre Kinder vielfach deutlich weltoffener und progressiver erziehen, als ihnen das die medial reproduzierten Stereotype zugestehen.

Zugleich wird Tuğba Tekkal auch immer wieder mit Unsicherheiten konfrontiert, weswegen sie sich dann abends noch mit den Eltern mancher Mädchen an einen Tisch setzt: „Was, wenn das Jungfernhäutchen meiner Tochter beim Fußball reißt?“ Das sind die Momente, in denen sich die Eltern mit ihren Scoring Girls* teils gemeinsam weiterentwickeln, wie Tekkal es bereits bei ihren eigenen Eltern erleben konnte: „Wir Kinder sind damals einfach vorausgerannt und irgendwann sind sie mitgerannt. Sie haben sich zusammen mit uns emanzipiert. Durch uns hat unser Vater gesehen, dass er sich unabhängig machen kann von der Meinung anderer. Also hat er irgendwann entschieden: Egal, was die anderen sagen, ich stehe zu meinen Töchtern.“

Solche Elterngespräche sind keine Seltenheit. Entsprechend klingelt Tuğba Tekkals Handy auch rund um die Uhr. Im Frühjahr 2021 kamen zwei Schwestern plötzlich nicht mehr. Keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Tekkal erkundigte sich bei der Mutter, die mit ihren fünf Kindern in einer Mutter-Kind-Einrichtung lebt, nach den 14- und 17-jährigen Mädchen. Und zunächst fiel die Antwort harsch aus. Es stünden nun, da die Töchter älter werden, wichtigere Aufgaben für die beiden an, um die sie sich kümmern müssten. Tekkal zeigte Verständnis gegenüber der alleinstehenden Frau mit ihren Bedenken. Es folgten drei Monate mit zahllosen Nachrichten der Mädchen an ihre Tuğba, anhaltenden Gesprächen mit der Mutter und einem Ausgang, der von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war: Die Töchter endlich wieder auf dem Fußballplatz, während ihre Mutter nebenan glücklich am Grillfest teilnahm.

Allen Widerständen zum Trotz

Mit den Scoring Girls* erlebt Tekkal viele schwere Situationen aus ihrer Kindheit noch einmal. Sie selbst habe sich damals eine Person gewünscht, die mit ihr über Wege und Möglichkeiten spricht und ihren Eltern die Angst nimmt. Tekkal selbst erhielt das allererste Fußballtraining erst mit 16 Jahren. Viel zu spät eigentlich für eine Profikarriere. Vorher hatte sie nur Bolzplätze gesehen. Auch der Eintritt in den ersten Verein verlief zunächst wieder heimlich.

Tekin, ihr älterer Bruder, meldete sie an, jemand anderes musste sie nach Hause fahren, durfte sie aber nicht vor der Tür absetzen. Nach einem halben Jahr im Fußballteam habe sie dann erstmals gespürt: „Ich kann etwas.“ Nun wollte sie auch schulisch mehr erreichen – Tekkal erwarb den erweiterten Realschulabschluss, während es kurz zuvor noch schwierig an der Hauptschule gewesen war. Schließlich dann ihre emotionale und sehr persönliche Abschlussrede an der Schule: „Damals ist meine Englischlehrerin auf die Bühne gekommen und hat sich entschuldigt, dass sie mich als Kollegium so ungerecht behandelt hatten.“

2015 steht Tuğba Tekkal als Profifußballerin und nur mit ihren Autogrammkarten in der Hand in einer Geflüchtetenunterkunft. Sie sagt, wie sie heißt, dass sie für den 1. FC Köln spielt und dass alle Mädchen kostenloses Training und schulische Betreuung bei ihr erhalten können. Doch zunächst schlägt ihr viel Skepsis entgegen. Wenig später werden erstmals 60 Kinder zu einem Fußballplatz gefahren. Neben anderen prominenten Frauengesichtern beteiligt sich auch ARD-Talkshow-Moderatorin Anne Will als Schirmherrin. Es werden Ausbildungsplätze vermittelt und Kontakte geknüpft. Tuğba Tekkals Antrieb für dieses Projekt: „Auf dem Rasen das Grundgesetz als Wert leben, nach dem per Gesetz alle gleich sind.“

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