Text: Marius Münstermann — Fotos: Martin Lamberty
Alles beginnt mit einer Video-Nachricht: Eine junge Frau erzählt unter Tränen, dass sie unter einem ihrer Posts in hunderten Kommentaren aufs Übelste beschimpft und bedroht wird. Zwei besonders aggressive Kommentare liest sie vor. Eigentlich hatte sie bloß stolz ihre unrasierten Achseln präsentieren und ihre Community zum Internationalen feministischen Kampftag auffordern wollen, es ihr gleichzutun. Doch damit zog sie schließlich den Hass auf sich.
Die junge Frau, genannt Frida, ist Schauspielerin – und Influencerin der fiktiven Plattform Vire, angelehnt an TikTok und Instagram. Willkommen bei „Loulu“, das die Spielenden mitnimmt in rechte Filterblasen, um die dahintersteckenden Netzwerke zu enttarnen und deren Strategien und Narrative zu entlarven. Die hasserfüllten Kommentare in der App wirken erschreckend echt, in Stil und Verachtung stehen sie den tatsächlich oft toxischen Kommentarspalten und Foren im Netz in Nichts nach. „Die Charaktere und sozialen Medien sind fiktiv“, meint Caspar Weimann, der das Spiel mitentwickelt hat. „Aber alles ist realen Personen und Plattformen nachempfunden, inhaltlich und ästhetisch.“ Der Plot: Ein Charakter namens Robin bietet Hilfe an, um herauszufinden, wer hinter der offenbar orchestrierten Hassattacke steckt.
Im Chat beschließen Frida und Robin, die Hinterleute des Angriffs zu finden. Nach und nach nähern sie sich immer mehr rechten Accounts in den sozialen Netzwerken an, um schließlich den harten Kern einer rechtsradikalen Gruppe zu infiltrieren. Besonders prominent: die rechte Influencerin Loulu. Anfangs postet sie harmlos wirkende Videos, in denen sie naturverbunden in der Frühlingssonne wandert (Hashtag #Heimatliebe) oder monologisierend den Feminismus kritisiert und stattdessen für vermeintlich traditionelle Rollenbilder wirbt. „Es geht von Anfang an um rechte Inhalte, aber im Hintergrund läuft schöne Musik“, beschreibt Caspar Weimann. „Das sind Inszenierungsstrategien. Die vermeintlich harmlosen Inhalte docken an Popkultur an. Sie sind explizit Teil einer rechten Medienstrategie.“
Caspar Weimann sieht „Loulu“ als ein Projekt der politischen Bildung. „Es klärt nicht nur über Funktionsweisen von Plattformen und Algorithmen auf, sondern reflektiert auch Ästhetiken, Narrative und Manipulationstaktiken neurechter Netzwerke“, ergänzt er. „Es geht darum, wie diese Netzwerke versuchen, im und über das Internet den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verschieben, etwa bei Themen wie Gender-Identitäten, Feminismus oder Rassismus.“
Radikalisierung in Netzwerken
Im Verlauf des Spiels werden die Aussagen von Loulu und den anderen immer radikaler. Mit jedem Plattformwechsel artikulieren sie ihren Hass unverhohlener. Die Hetze beginnt etwa auf Facebook, steigert sich dann in Telegram-Channels und wird in geschlossenen Gruppen im Chat-Dienst Discord völlig enthemmt. Die Idee zum Spiel entstand an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, an der Caspar Weimann einen Lehrauftrag hat.
Gemeinsam mit seiner damaligen Studentin Luzia Oppermann arbeitete Weimann an deren Absolvierendenvorspiel. Auf der Bühne trug Oppermann extrem frauenfeindliche Texte vor, sie persiflierte misogyne Ansichten rechter Männer. Derart eindrucksvoll sei ihr Auftritt gewesen, dass Weimann noch heute schwärmt, wenn er davon erzählt. Für beide war klar: Diesen Stoff müssen wir weiterentwickeln. Das Thema war gesetzt: rechte Frauen- und Queerfeindlichkeit. „Wir sind ein Kernteam aus weißen Leuten“, so Weimann. „Deshalb konnten wir rassistische Gewalt nicht authentisch thematisieren, weil wir damit selbst keine Erfahrungen haben.“
Schauspielerin Oppermann entwickelte ihre Rolle weiter. Es entstand die namensgebende Figur der rechten Influencerin Loulu. Zusammen mit Dokumentarfilm-Regisseurin Kathi Kraft und Programmierer Toni Minge entstand ein ganzes Biotop mit rechten Charakteren, deren Agitationen sich die Spielenden in verschiedenen sozialen Netzwerken erschließen. So entstand eine „interaktive Fiktion“, wie Weimann das Spiel am liebsten nennt.
Anderthalb Jahre hat er daran gearbeitet. Und es scheint eine logische Weiterentwicklung dessen zu sein, was Weimann schon seit Jahren umtreibt: das Theater von den angestaubten Bühnen holen. Dazu gehören eben auch digitale Räume wie soziale Netzwerke. Caspar Weimann fasst seinen Ansatz folgendermaßen zusammen: „Ich will nicht sagen: ‚Leute, geht mal ins Theater‘, sondern: ‚Ey Theater, komm mal in der Gegenwart an.‘“
Die Neuerfindung des Theaters
Theater sind für Caspar Weimann nach wie vor „wichtige Institutionen, soziale Foren“. Oft aber blieben sie „elitäre Orte, extrem zutrittsbeschränkt und selbstreferentiell“, erklärt er. Oder anders ausgedrückt: „Für viele Leute ist Theater der Ort, an dem sie sich gut anziehen müssen, um sich zu langweilen. Aber das ist nicht, wie ich Theater kennengelernt habe.“
Caspar Weimann kam schon als Jugendlicher zum Theater. „Ich bin in einem Jugendclub in Magdeburg groß geworden und habe dort mit 15 mein erstes eigenes Stück inszeniert. Das waren alles Uraufführungen. Klassiker haben uns nicht interessiert, auch zu zeitgenössischen Stücken fehlte uns der Zugang.“ Stattdessen machten die Jugendlichen auch mal Flashmobs auf der Straße. Die Erkenntnis damals: „Das ist ja auch Theater!“ Heute meint Weimann dazu: „Der Begriff Theater ist auch ein Klotz am Bein.“
Neue Formate erproben, neue Medien und digitale Räume einbeziehen, das reizt ihn. Nach dem Schauspielstudium in Rostock und diversen Gastspielen, etwa als Mitglied der Bühne für Menschenrechte, schuf Weimann das Kollektiv „onlinetheater.live“, mit dem er zum Beispiel auf einer Live-Pornoplattform ein Stück aufführte. Zuschauen durfte nur, wer sich einen Account anlegte. „Wir versuchen, das Internet als genuin theatralen Ort zu nutzen.“ Mit der Pandemie, in der die klassischen Bühnen unter den erzwungenen Schließungen litten, ging Weimanns Ansatz digitaler und hybrider Theaterformen voll auf. Mit dem Spiel „Loulu“ sind Weimann und seine Mitstreitenden aber noch einen Schritt weitergegangen. Die klassische Aufteilung – hier die Schauspielenden auf der Bühne, dort das Publikum – fehlt komplett.
Wer teilnehmen möchte, muss sich zunächst die App herunterladen – und das eigene Handy wird zum Theater. Dialoge in Chatfenstern und Feeds voller Videos und Nachrichten treiben die Handlung voran. Das alles wirkt sehr authentisch, etwa wenn der Messenger Pling einen Moment lang lädt oder die Spielenden warten müssen, während im Chatfenster drei Punkte anzeigen, dass Freundin Frida eine Nachricht tippt.
Umgang mit rechten Narrativen
Wie gefährlich es sein kann, sich mit den Rechtsextremen anzulegen, erfährt Frida im Laufe des Spiels, als plötzlich ein Neonazi demonstrativ vor ihrem Haus auftaucht. Um sich nicht selbst zu gefährden, wagte sich das Team bei der Entwicklung des Spiels allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt in extrem rechte Ecken des Netzes hinein. In der heiklen Phase des Spiels, in der eine rechtsextreme Gruppierung ausgehorcht werden soll, fußt die Dramaturgie auf investigativen Recherchen und Erkenntnissen aus der Wissenschaft. Als nächstes sollen auch begleitende Materialien für den Schulunterricht entstehen. Doch je eindeutiger und radikaler die Inhalte im Verlauf des Spiels werden, desto mehr drängt sich eine Frage auf: Wie lassen sich rechte Narrative thematisieren, ohne rechten Positionen zu viel Raum zu geben?
„Mit dieser Frage haben wir uns die ganze Zeit am intensivsten auseinandergesetzt“, erzählt Caspar Weimann. „Am Ende haben wir uns gefragt: Würde es Rechten Spaß machen, dieses Spiel zu spielen?“ Vorangestellt ist dem Spiel außerdem eine Triggerwarnung – darin heißt es unter anderem, gewaltvolle Sprache werde nicht zensiert. Caspar Weimann ergänzt dazu: „Ich finde: Ja, um über toxische Narrative aufzuklären, müssen diese auch benannt und sichtbar gemacht werden – aber es braucht auch eine Kontextualisierung. Uns war die Authentizität der Charaktere und ihrer Inhalte wichtig, wir wollten nichts übertreiben.“
Weimann findet aber auch: „Wir können den Leuten mehr zutrauen, als wir denken.“ Letztlich gehe es um eine Art Immunisierung. Er wählt den Vergleich zu einer Impfung, die den Körper dazu anregt, Antikörper zu bilden: „Wir simulieren rechte Narrative, die es ja eh gibt, damit die Spielenden darauf vorbereitet sind, wenn ihnen solche Inhalte im Netz begegnen.“
Anfangs überlegte das Team noch, den Stoff in einem der etablierten sozialen Netzwerke zu inszenieren und Nutzende zur Interaktion einzuladen. Um rechten Agitationen keine Plattform zu bieten, verwarfen sie die Idee. „Uns war klar: Früher oder später haben wir die Nazis an der Backe. Deshalb haben wir uns für einen abgeschlossenen Gaming-Space entschieden, über den wir die volle Kontrolle haben“, so Weimann. Letztlich blieb dennoch ein Ort, an dem rechte Trolle ihren Frust über das Spiel ablassen können: die Kommentarspalte der App-Stores, in denen das Spiel mit schlechten Bewertungen und rechten Kommentaren bombardiert wurde. Weimann kann darüber lachen, denn die Kommentare seien Paradebeispiele für die rechten Medienstrategien: „Alle diese Kommentare kommen so oder so ähnlich in unserem Spiel vor.“
Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.