Abtreibung in Begleitung — Hannah

Mehr als 100 000 Schwangerschaftsabbrüche wurden 2022 vorgenommen. Verurteilung erfahren Betroffene meist ungefragt, nach Hilfe müssen sie dagegen suchen. Hannah hilft mit ihrem Netzwerk Abortion Buddy.
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Text: Philine Schlick — Fotos: Max Gödecke

Ihren Nachnamen verschweigt Hannah aus gutem Grund – Drohungen und Hassnachrichten sind die Folgen ihres Engagements. Hannah ist gelernte Kriseninterventionshelferin und auch Gründerin von Abortion Buddy, einer Initiative, die Schwangere auf ihrem Weg zum Abbruch begleitet: per Mail, am Telefon, persönlich, durch die Vermittlung an Beratungsstellen. „Als ich das erste Mal damit zu tun hatte, hat es mir das Herz gebrochen, zu sehen, welche Hürden Schwangere in einem so hoch entwickelten Land auf sich nehmen müssen.“ Ehrenamtlich leistet Hannah das, was in ihren Augen Aufgabe des Gesundheitssystems sein sollte.

Abtreibungen sind immerzu Ursache hitzig geführter Debatten. Und nach deutschem Recht ist „ein Schwangerschaftsabbruch für alle Beteiligten strafbar“. Dies regelt Paragraf 218 im Strafgesetzbuch. Ausnahmen gelten, wenn Betroffene der sogenannten Beratungsregelung folgen und mindestens drei Tage vor dem Eingriff eine staatlich anerkannte Beratungsstelle aufsuchen. Oder wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt – bei einer Eileiterschwangerschaft etwa oder einem Sexualdelikt. In diesen Fällen ist der Eingriff straffrei.

Ein Abbruch ist an mindestens eine ärztliche Kontrolle gebunden und bedeutet Termine, viel Zettelkram, häufig Rechtfertigungen. „Und das in einer Situation, in der sowieso schon alles neu, fremd und überfordernd ist“, sagt Hannah. „Es gibt 20 000 Hürden, die ich überwinden muss, bevor ich bekomme, was ich will.“ Dabei gehe es bei einem solchen Eingriff immer um Zeit: „Das Problem ist, überhaupt rechtzeitig einen Termin für eine Beratung zu bekommen und dann noch eine Praxis zu finden, die überhaupt eine Abtreibung durchführt.“

Zwischen positivem Schwangerschaftstest und dem Abbruch vergehen derzeit im Schnitt zwei bis drei Wochen. Das könne eine unerträgliche Wartezeit bedeuten, die schlicht zu lang und im Ernstfall sogar lebensbedrohlich ist. Ein Abbruch ist in Deutschland maximal bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. „Wir hatten mal eine Person aus Australien in der Beratung. Sie war auf Europareise und hatte hier festgestellt, dass sie schwanger ist. Es war eine Tortur, das rechtzeitig zu lösen, auch wegen der Zuständigkeit der Krankenkassen. Ich bin stinksauer. Über einen Zustand, der nicht haltbar ist“, beschreibt Hannah.

„Die Realität von heterosexuellem Sex ist eben, dass Menschen schwanger werden können. Keine Verhütungsmethode kann das zu 100 Prozent sicher verhindern. Wir müssen darüber sprechen, dass es die Möglichkeit des Abbruchs gibt und wie wir damit umgehen können.“ Die Verankerung im Strafgesetzbuch aber mache eine Abtreibung immer zu etwas Kriminellem. „Die Abschaffung von Paragraf 218 ist einer der wichtigsten Schritte“, ist Hannah überzeugt.

Der Streit um Paragraf 218

Seit der Aufnahme ins Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches im Jahr 1871 ist der Paragraf umstritten. Bis ins 18. Jahrhundert herrschte die – von der katholischen Kirche unterstützte – Meinung vor, ein Embryo gehöre bis zum 40. Schwangerschaftstag (bei männlichen Feten, bei weiblichen bis zum 80.) mehr oder weniger zu den Eingeweiden von Schwangeren und sei bis dahin „unbeseelt“. Eine Abtreibung war innerhalb dieser Fristen also duldbar.

Später verbreiteten sich neue medizinische Erkenntnisse von der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, die schon die Befruchtung als Vorstufe des Menschseins nahelegten. Aufgrund dieser Erkenntnisse fühlte sich der Staat verpflichtet und berechtigt einzugreifen, um sich zukünftige Mitglieder zu erhalten. Bevölkerungspolitische Beweggründe sollten auch durch Kriegsverluste und ideologische Einflüsse lange Zeit wirkmächtig bleiben. Erste massenhafte Proteste „wider den Gebärzwang“ erlebte die Weimarer Republik. So wurde das Verbot von einem Verbrechen zum Vergehen herabgestuft – ein Erfolg, der die NS-Zeit nicht überstand. Ab 1943 stand auf Abtreibung die Todesstrafe, die 1953 wieder abgeschafft wurde.

Die sogenannte sexuelle Revolution gab der Debatte neuen, feministischen Auftrieb, unter anderem mit der von Alice Schwarzer initiierten Outing-Kampagne, bei der sich 1971 374 Frauen im Magazin Stern zu ihrer Abtreibung bekannten. Wie die Demonstrierenden in der Weimarer Republik auch, verwies die Bewegung auf Selbstbestimmung, aber genauso auf weniger Privilegierte, die Gesundheit und Leben riskieren mussten, indem sie sich für einen Abbruch an sogenannte „Kurpfuscher“ wendeten. Im Strafgesetzbuch ist Abtreibung seit der Zusammenlegung des ost- und westdeutschen Modells 1995 rechtswidrig, jedoch straffrei. Ein Kompromiss, der konträre Positionen widerspiegelt – und weiter Proteste auslöst. 

„Warum gibt es nur eine bevormundende Beratung, aber keine unterstützende Begleitung?“ Eine praktische Antwort auf diese Frage lieferte Hannah mit der Gründung von Abortion Buddy vor gut zwei Jahren kurzentschlossen selbst. Auf ihrem privaten Instagram-Account startete sie einen Aufruf mit der Idee zum Netzwerk und fand in kürzester Zeit Unterstützung. „Wir fragen nicht nach Gründen. Wir sind einfach da und stellen die Entscheidung der Person nicht infrage.“ Denn letztlich gehe es genau um das: „Es gibt kein richtig und kein falsch, kein böse und kein gut. Es gibt nur einen Entschluss, der zu 100 Prozent bei einem selbst liegt.“

Hannah beschreibt es als verletzend und unwürdig, eine so persönlich und zugleich diffizile Entscheidung vor anderen erklären zu müssen, um sie überhaupt umsetzen zu können. Die Gründe für einen Abbruch seien schließlich so verschiedenartig wie die Menschen, die ihn wünschen, zählt Hannah auf: abweichender Lebensentwurf, abgeschlossene Familienplanung, Gewalt in der Beziehung, falscher Zeitpunkt, Angst, andere Pläne, Gesundheit, traumatische Erfahrungen. Was alle Geschichten letztlich eine, sei die Einsamkeit, stellt sie fest. Sie wolle jedoch nicht zulassen, das Personen diesen Prozess allein durchlaufen müssen.

Eingriff schafft Einsamkeit

Die Entscheidung zu einer Abtreibung stürze Menschen in ein völliges Gefühlschaos: Was soll ich tun? Tue ich auch das richtige? Woher kommen diese Gefühle? Kommen die aus mir? Sind es gesellschaftliche Erwartungen, die mich beeinflussen? Oder die Religion? Zukunftsängste? Kann ich das alles überhaupt voneinander trennen? Ich fühle mich gar nicht schlecht! Warum fühle ich mich nicht schlecht? Wichtig sei es, einfach da zu sein und zuzuhören, weiß Hannah. „Du musst zu einem weißen Blatt werden und deine eigenen Ansichten hintenanstellen.“

Kaum ein Thema sei so intim und werde trotzdem gesellschaftlich so bewertet, gleichzeitig aber mit Tabus belegt, erklärt die Initiatorin. Über den Vorwurf, eine Abschaffung von Paragraf 218 würde eine Welle von Abtreibungen als Ersatz zur Verhütung bedeuten, kann Hannah nur bitter lachen. „Ich habe noch nie erlebt, dass sich jemand diese Entscheidung leicht gemacht hätte“, argumentiert sie. „Das verändert dich.“ Vielmehr ziehe sie die vermeintlich integeren Motive der Gegenseite in Zweifel. Die meisten seien nicht gegen Abbrüche, weil sie Kinder so sehr lieben: „Es geht um Macht und Kontrolle über den Körper einer gebärenden Person. Es wird einem bewusst die eigene Entscheidungsgewalt genommen.“ Anders könne sie sich den Hass, den sie immer wieder erlebe, nicht erklären. „Wir müssen über Misogynie reden.“

Für Hannah hat der erhebliche Einfluss des Staates auf die Entscheidung des Individuums beim Thema Abtreibung viel mit zementierten Geschlechterrollen zu tun – und auch mit der Formung durch religiöse Dogmen. Es geht um das Bild „einer guten Hausfrau und Mutter“, um die Erfüllung von Funktionen und um Schuld. „Es herrscht das Narrativ vor, dass ein Kind das Größte ist, was eine Frau leisten kann.“ Abortion Buddy aber vertritt das Recht auf eine freie Entscheidung: „Bei uns engagieren sich auch Mütter und Hebammen, weil sie überzeugt sind, dass es eine Möglichkeit geben muss, sich dagegen zu entscheiden.“

2022 immerhin wurde der viel diskutierte Paragraf 219a, das „Werbeverbot für Abtreibungen“, das Praxen die simple Aufklärung über den Eingriff unmöglich machte, mit breiter Mehrheit im Bundestag abgeschafft. Zum Gesicht der Kritik wurde Gynäkologin Kristina Hänel aus Gießen, die selbst strafrechtlich verfolgt wurde, weil sie über Schwangerschaftsabbrüche aufklärt. Der Kampf gegen Stigmata ist mit der Abschaffung jedoch längst nicht zu Ende, sagt Hannah. „In meinem Umfeld ist Abtreibung erst Thema, seitdem ich offen darüber spreche. Obwohl sich alle als links, feministisch, aufgeklärt verstehen. Wie siehts dann in anderen Bereichen aus?“ 

Selbststudium mit Papayas

Abortion Buddy sei dem Namen nach eine freundschaftliche Anlaufstelle. Schwangere können hier das Gespräch suchen und werden bei Bedarf an Stellen wie Pro Familia weitervermittelt. Auf Wunsch begleiten die Buddies in die Klinik – und zurück. Hannah schildert folgenden Fall: „Ein Abbruch geschieht unter Narkose. Und es ist verpflichtend, von jemandem abgeholt zu werden. Was ist, wenn du anonym bleiben willst? Dann musst du jemandem Bescheid geben oder du wirst nicht entlassen.“ Wer einen Eingriff vor sich hat, wird deshalb von den Buddies zuhause abgeholt und auch wieder bis vor die Haustür zurückgebracht.

Derzeit gebe es ein Überangebot an Interessierten, die ihre Begleitung anbieten. An die 400 E-Mails würden in ihrem Postfach warten, verdeutlicht Hannah. Ihre Initiative allerdings wolle sie langsam und auch nachhaltig wachsen lassen. Erst einmal stehe die Vereinsgründung an – ein Schritt in Richtung Institutionalisierung des ehrenamtlichen Vorhabens, das schon jetzt ein weitläufiges Netzwerk gebildet hat und Begleitung in verschiedenen Sprachen anbieten kann.

„Mein absoluter Traum ist es, dass das Thema bereits im Medizinstudium verankert ist“, meint Hannah. Bislang spiele Abtreibung in der Ausbildung eine noch zu kleine Rolle – das kritisiert auch medizinisches Fachpersonal. Es gibt Studierende, die sich den Eingriff an Papayas selbst beibringen – so macht es die Initiative Medical Students for Choice vor. Auch der Umgang mit Abtreibungswilligen in Praxen müsse sich ändern: „Ich würde das Studium fachlich niemals infrage stellen, aber bei der Arbeit mit Menschen sollte Sensibilität die Grundlage sein.“ Das fange schon beim geeigneten Vokabular an. „Wir brauchen neue Wörter und Beschreibungen.“ Auf Instagram sammelte Abortion Buddy zum Beispiel Sätze, die helfen können, wenn jemand eine Abtreibung durchlebt: „Du bist nicht allein. Du hast nichts falsch gemacht. Du darfst weinen, auch wenn es die richtige Entscheidung ist.“

Solche Aussagen könnten schon sehr helfen, besonders dann, wenn sie von ärztlicher Seite kämen, betont Hannah. Und so könnte es künftig auch einen angemessenen Umgang mit dem Thema in den Medien geben. Häufig würden Beiträge zum Thema mit Schwangeren im achten Monat bebildert. Das löse sofort einen Alarm aus im Kopf. „Da muss selbst ich schlucken. Eine Abtreibung geschieht aber zu einem Zeitpunkt, wo dem Bauch absolut nichts anzusehen ist“, sagt Hannah. Die positiven Seiten würden ohnehin weggelassen: die Erleichterung, der Mut, die Bestimmtheit, die Sicherheit. „Das ist keine blutige, schmutzige Angelegenheit.“ 

Die Sensibilisierung wäre dann Teil eines kassengestützten Versorgungsprogramms, erklärt Hannah. Noch bezahlt die Initiative die Taxifahrten zur Klinik und zurück über Spenden. Und noch will sie ihren Nachnamen nicht preisgeben, um sich selbst und Vertraute zu schützen. Aber irgendwann könnte es eine gezielte Forschung, eine offenere Pressearbeit und speziell entwickelte Medikamente für den Schwangerschaftsabbruch geben. Mehr Gelder, eine Lobby. „Durch eine leichtere Zugänglichkeit würden Schwere und Einsamkeit abnehmen.“  

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