Text: Melanie Skurt — Fotos: Martin Lamberty
Noch nie hatte Ismail Küpeli so häufig den immer gleichen Satz gedacht und ihn parallel ins Internet geschrieben wie in den Wochen der Invasion russischer Truppen in der Ukraine: „Wir leben in der absurdesten Simulation.“ Dass sich die Dinge für ihn oft surreal anfühlen, liegt an zynisch anmutenden Nachrichten, die Ende Februar 2022 seinen Newsfeed fluteten. Ein Post des iranischen Ex-Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad zum Beispiel, der auf Twitter schrieb: „Mr #Putin. Stop the Satanic war. Otherwise, you will have no achievement but remorse.“
Oder eine Eilmeldung von Breaking 911: „The Taliban calls on Russia and Ukraine to resolve the crisis through dialogue and peaceful means‘.“ Wann hat sich die Weltlage derart verkehrt, dass ein Holocaustleugner und Terrormilizen den Pazifismus entdecken, geht es Küpeli durch den Kopf. Und er möchte sich kneifen.
Menschen aus der Politikwissenschaft, die ihre Profession mit dem Duisburger teilen, verharrten bei Kriegsbeginn meist auf spekulativen Positionen zum Verlauf in der Ukraine. Anders der Forscher der Universität zu Köln, der für Medien wie das Neue Deutschland oder die Jungle World schreibt. Das linke Redaktionsnetzwerk „Kritisch lesen“ nennt ihn Aktivist. Es ist eine Schublade, die Küpeli gerne für sich öffnet. „Als Wissenschaftler und Publizist ist das häufig negativ besetzt – wegen mangelnder Neutralität. Ich habe aber gar nicht den Anspruch neutral zu sein, weil ohnehin alles, was wir tun, durch persönliche Erfahrungen gefärbt ist.“ Deswegen tue es ihm nicht weh, sich für bestimmte politische Überzeugungen einzusetzen. Konkret bedeutet das, die Stimme für gewaltfreie Lösungen von Konflikten zu erheben.
Am treffendsten ließe er sich wohl als Friedensaktivist labeln, räumt Küpeli ein – und zuckt dennoch zusammen. „Das Bild ist natürlich schräg, weil ich keine Sitzblockaden vor Kasernen errichte oder Ostermärsche organisiere.“ Sein Protest sieht deutlich anders aus. In Beiträgen, Interviews und Vorträgen klärt er auf: über staatliche Politiken gegenüber Minderheiten in der Türkei und Deutschland, nationalistische Ideologien und identitäre Tendenzen. Aktuell arbeitet er an einem Forschungsprojekt zu rechten Verschwörungserzählungen in Deutschland. In den letzten Monaten aber ging es Küpeli vor allem darum, eine Öffentlichkeit für Doppelstandards zu schaffen, die der Ukraine-Krieg offenbart. Zum Beispiel in der deutschen Außenpolitik.
Paradoxie im Politischen
Ein Foto von Annalena Baerbock (Die Grünen) und dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu zeige zum Beispiel, wie paradox Politik betrieben wird. Im Tweet der deutschen Außenministerin heißt es, die starke deutsch-türkische Partnerschaft stünde in der Russland-Krise zusammen. Küpeli stößt das auf: „Es fällt mir schwer, hier nicht zynisch zu werden.“ Schließlich sei die türkische Regierung selbst für mehrere Angriffskriege verantwortlich, genauso für die Tötung Tausender Menschen aus der Zivilbevölkerung und die weitgehende Zerstörung zahlreicher kurdischer Städte – zum Beispiel Cizre. Teile Rojavas, der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, sind zudem noch immer besetzt.
Und allein die Person Mevlüt Cavusoglu konterkariere demokratische Werte auf Schärfste. Bei Auftritten schmückt er sich etwa mit dem Gruß der türkischen, rechtsextremen Grauen Wölfe; „bekanntlich ein Handzeichen für Demokratie und Pluralismus“, sagt Ismail Küpeli voller Ironie. „Ansprüche an die wertegeleitete Außenpolitik Deutschlands scheinen aufgegeben.“ Keinen anderen Schluss ließen solche Bilder zu, die „alles Kritikwürdige an der Türkei ausblenden“.
Die Zeit drängt ihn, den Beobachtungsposten des Forschenden zu verlassen. Der Krieg in der Ukraine führe die historische Kontinuität von Gewalt vor Augen. „Kriegsverbrechen, die von der russischen Armee in Butscha verübt wurden, unterscheiden sich wenig von dem, was die türkische Armee seit Jahren in den kurdischen Gebieten der Türkei und in Nordsyrien verübt. Beides muss politisch verurteilt werden und alle Täter belangt“, so Küpeli auf Twitter, der in seinem Meer aus Offenlegungen türkischer Kriegsverbrechen nur einen Tropfen bildet.
Seit Monaten ruft er Geschichten wach, leistet Erinnerungsarbeit und benennt Grausamkeiten konkret. So schreibt er im September 2020: „Vor fast genau 5 Jahren wurde Cemile Çağırga von türkischen Soldaten in #Cizre erschossen. Cizre stand damals unter Ausgangssperre und ihre Eltern konnten sie nicht beerdigen. Damit die Leiche nicht verwest, mussten sie Cemiles Leichnam in ihrem Kühlschrank ,aufbewahren’.“ Als Wissenschaftler dokumentiert er diese Fakten. Als Aktivist geht er über die reine Analyse hinaus und wird zum politischen Forderer.
Die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen erklärt Küpeli als dringend notwendig und weist gleichzeitig auf einen schwer auflösbaren Widerspruch hin: „Wenn wir sagen, Putin muss in Den Haag angeklagt werden, wird die Aussicht auf Verurteilung nicht dazu führen, dass der Krieg endet.“ Aufgabe von Politik sei es dennoch, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. „Wir müssen verstehen: Wenn Täter einfach machen dürfen, wenn sie keine Konsequenzen fürchten müssen und straflos bleiben, werden nächste Taten folgen.“
Flucht nach Deutschland
Manchmal klingen diese Wortmeldungen abgeklärt. Und tatsächlich räumt der Duisburger ein, die aktuelle Situation bedeute nichts Neues für ihn. Dass ein Staat die eigene Bevölkerung drangsaliert, dass Militär und Polizeikräfte im Zweifel nicht beschützen, sondern selbst eine Bedrohung darstellen, seien Erfahrungen, die Küpeli früh machen musste. „Ich habe immer wieder Konstellationen erlebt, in denen Positionen von Macht und Wehrlosigkeit deutlich auszumachen waren. Ich sympathisiere mit den Schwächeren, weil ich weiß, wie es ist, wenn eine Seite die Spielregeln festsetzen kann und die andere Seite das erdulden muss.“
Was genau er damit meint? Die Antwort auf diese Frage führt 30 Jahre in die Vergangenheit. Duisburg, 1992. Unfreiwillig wird die Ruhrstadt zur neuen Heimat für den damals 13-Jährigen. Die Türkei müssen er und die linksliberal engagierten Eltern als politisch Verfolgte verlassen. In Deutschland angekommen wird Ismail Küpelis Politisierung durch Mutter und Vater schnell in aktivistische Strukturen gelenkt: In Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln entblößen Teile der Gesellschaft all ihren menschenverachtenden Hass. „Und es ist ja nicht so, dass du Übergriffe nur in den Nachrichten siehst, du erfährst sie selbst. Auf dem Weg in die Schule, im Alltag. Der Rassismus ist immer da.“
Um sich zu schützen, begründet Küpeli eine antifaschistische Gruppe in Anlehnung an Antifaşist Gençlik – eine Gruppe antifaschistischer Menschen mit Migrationsbiografie. Sie organisiert sich Ende der Achtzigerjahre in Berlin, weil deutsche Strukturen für sie keine Zuflucht sind. „Als junger Geflüchteter habe ich Anfang der Neunziger erfahren, wie schwierig es für ,Nicht-Deutsche’ ist, innerhalb der deutschen Linken Fuß zu fassen“, erklärt er.
Eine Anekdote aus der Zeit beschreibt das Problem. Während einer Demo in Hoyerswerda 1992 durchbrechen migrantische, antifaschistische Jugendliche eine Polizeikette. Deutsche Linksautonome verurteilen die Aktion als nicht zielführend. In der Auseinandersetzung beider Gruppen fällt ein vielsagender Satz, so Küpeli: „Die Deutschen erklärten den migrantischen Autonomen: ‚Wir brauchen euren Mut, so wie ihr unsere Klugheit braucht.‘ Das offenbart viel über Machtstrukturen und die Vorstellung, migrantische Linke seien steuerbare Objekte.“
Mit Kritik an der Szene hält er sich auch heute nicht zurück. Nach wie vor seien Ressourcen im linkspolitischen Spektrum ungleich verteilt – bei Ämtern oder Leitungspositionen. „Wenn wir es ernst meinen, dass wir alle Menschen über ethnische und religiöse Grenzen hinweg organisieren wollen, müssen wir uns fragen: Wie sorgen wir dafür, dass Strukturen offener und inklusiver werden?“ Eine Quotenregelung als Brückentechnologie hält er für sinnvoll.
Ideen politischer Bildung
Die Arbeit an Lösungen, die kritische Analyse ist Ismail Küpelis Tun eingeschrieben. Sei es bei der Amadeu Antonio Stiftung, wo er sich zeitweise gegen Hassrede im Netz einsetzte. Als Politologe, der seine Dissertation über „Die kurdische Frage in der Türkei“ schrieb. Oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Untersuchungsausschüssen „Mafia“ und „Politische Gewalt“ für die Thüringer Die Linke. Die Nähe zur Partei ergebe sich durch seine Biografie – Mitglied sei er aber nicht mehr. „Ich hatte die Hoffnung, in den Migrationsdebatten rund um Sahra Wagenknecht, Teil einer Gegentendenz zu sein. Das hat leider nicht funktioniert“, begründet er seinen Austritt nach etwa einem Jahr. „Als einfaches Mitglied hatte ich nicht das Gewicht, um wirklich etwas zu ändern. Da investiere ich meine Zeit lieber anders.“
Zum Beispiel in politische Bildungsarbeit. In Zukunft wolle sich Küpeli darauf konzentrieren, denn: Politische Bildung hält er für den entscheidenden Schlüssel, demokratiegefährdende Tendenzen abzuwenden und seiner Vision einer gewaltfreien Gesellschaft näherzukommen. Schließlich ermögliche nur die Bearbeitung der eigenen Geschichte einen gesellschaftlichen Erkenntnisprozess – und damit auch Wandel. Aktuelle Untersuchungen unterstreichen die Dringlichkeit. Die Straftaten politisch motivierter Gewalt haben 2021 einen Höchststand erreicht; Ergebnisse einer Langzeitstudie der Bertelsmann Stiftung belegen zudem, dass der Demokratiezuspruch nach zwei Jahren Corona-Pandemie auf einem Tiefpunkt angelangt ist.
„Wenn wir Konflikte gewaltfrei und langfristig lösen wollen, gelingt das nur über zwei Wege: Erstens müssen alle Perspektiven eingebunden werden, im Sinne einer pluralistischen Denkweise. Zweitens müssen wir Interessen über basisdemokratische Prinzipien aushandeln.“ In diesem Prozess unverrückbare Werte zu vermitteln, sei Aufgabe politischer Bildung. Die Ampelregierung kündigte kurz nach Amtsantritt an, genau hier investieren zu wollen.
Im März 2022 stellte die neue Innenministerin Nancy Faeser (SPD) den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vor – und in Überlegungen für ein Demokratiefördergesetz wurden seit Februar etwa 170 Organisationen und Menschen aus der Wissenschaft mit Stellungnahmen einbezogen. Küpeli verbucht das unter gut gemeinten Absichtserklärungen. „Am Ende geht es doch darum, dass der Staat langfristig Ressourcen bereitstellen muss. Wir brauchen – wie schon in den Neunzigerjahren gefordert und umgesetzt – unabhängige Kräfte, die kritisch gegenüber staatlichem Handeln sind und sich nicht Jahr für Jahr von Projektförderung zu Projektförderung hangeln müssen.“
Küpeli stimmt es zuversichtlich, dass Dinge in Bewegung sind, Strukturen offener und andere Perspektiven zunehmend gehört werden. Zu dieser Entwicklung will er weiter beitragen, indem er seinen Blick auf die Welt teilt. Auch wenn sich dieser manchmal beklemmend irreal anfühlt – Stichwort: Simulation. „Das ist meine Bewältigungsstrategie“, erklärt er. „Ich möchte nicht dauerwütend oder zynisch werden. Deswegen sage ich: ,Gerade fühlt sich die Welt an, als sei ich im falschen Film, aber ich suche darin trotzdem meinem Weg und bleibe positiv.‘“
Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.