Text: Melanie Skurt — Fotos: Nora Börding
Leben im freien Fall: Menschen irren durch den letzten Urwald Europas, leiden an Hunger, fehlendem Trinkwasser, Kälte und kompletter Ausweglosigkeit. Wer über Belarus nach Polen flüchtet, findet sich abgeschirmt in der drei Kilometer breiten Speerzone des Białowieża- Nationalparks wieder. Hier frieren Existenzen ein, ohne Chance auf ein Vor oder Zurück. Die Hilfsorganisation „Wir packens an“ versucht das zu ändern – und gerät dabei selbst in Konflikte. Unsere Autorin hat die Fahrt an die Grenze begleitet.
5. Februar 2022, 19 Uhr: Stoisch fährt Axel Grafmanns den Truck geradeaus durch die Dunkelheit. Seit über 700 Kilometern ist daran rein gar nichts ungewöhnlich, bis plötzlich Polizeisirenen die Stille brechen. Die schmale Straße ist umgeben von Wald und bildet einen engen Korridor, der das Blaulicht zurück auf den Asphalt wirft. Die polnische Polizei und ein Wagen des Grenzschutzes stoppen den kleinen Lkw mit deutschem Kennzeichen. „Your passport please and open the back“, fordert ein Polizist. Männer in Uniform und Sturmhauben leuchten die Ladefläche mit Taschenlampen aus. Ihr Licht fällt auf Pappkartons, die das hintere Drittel des Transporters füllen. „Sie haben gefragt, wer wir sind, was wir geladen haben und wohin wir fahren“, rekonstruiert Miriam Tödter in ihrer Erinnerung.
Sie rutscht auf dem Beifahrersitz hin und her, ihr Partner Axel Grafmanns hält sich am Lenkrad fest. „Er wirkte nach außen ruhig, aber an seiner Stimme habe ich gehört, dass er nervös war.“ Gegen die Aufregung habe er tief in den Bauch geatmet. Ein einziger Gedanke kreist in seinem Kopf: „Wir dürfen unser Ziel nicht verraten.“ Denn damit würden sie ein verborgenes Lager von Engagierten offenlegen, die sich Grupa Granica nennen. Grafmanns erklärt dem Polizisten, in ein Dorf in der Nähe zu wollen, um eine Freundin zu besuchen. Die genaue Adresse kenne er nicht, finde das Haus aber wieder, wenn er im Ort sei. „No problem, we will follow you and talk to the woman. Go on“, lautet die Antwort sinngemäß. Es ist die letzte Station einer Reise durch den polnischen Winter, die bisher nach Plan verlief.
An diesem Punkt sind es noch gut 15 Kilometer bis Belarus. Entlang der Ländergrenze galt bis zum Jahreswechsel 2021/2022 wegen massiver Fluchtbewegungen der Ausnahmezustand. Auch heute riegelt die Sperrzone einen Umkreis von meist drei Kilometern ab; niemand hat Zutritt. Weder Hilfsorganisationen noch journalistisch arbeitende Menschen dürfen hinein, um über den Zustand Geflüchteter zu berichen oder zu helfen. Deshalb müssen Engagierte versteckt agieren, Kommunikation und Logistik geheimhalten. Gesprochen wird darüber kaum noch. Nicht im Februar, als diese Reise stattfindet und die Zahl der Geflüchteten aufgrund der Kälte zwar sinkt, aber dennoch laut einer Sprecherin des Grenzschutzes täglich bis zu 50 Übertritte von Belarus nach Polen stattfinden. Nicht im Juni 2022, als dieser Artikel erscheint – und das polnische Innenministerium damals das Ende der Speerzone für Juli ankündigt.
Zweierlei Maß
Denn zu diesem Zeitpunkt konzentriert sich die mediale Aufmerksamkeit über 200 Kilometer weiter südlich: auf die Ukraine. Seit Ende Februar offenbaren sich entlang der polnischen Grenze Paradoxien, die selbst erfahrene politisch-aktivistische Menschen wie Miriam Tödter und Axel Grafmanns manchmal ratlos zurücklassen. Ihr Verein „Wir packens an“ bringt Hilfsgüter in die Region. An die Grenzen Polen-Belarus, Polen-Ukraine, Ukraine-Moldau. Mit Beginn des russischen Angriffs haben Tödter, Grafmanns und ihr Netzwerk von über 200 Vereinsmitgliedern von Lauf auf Sprint umgestellt. „Die letzten Wochen waren unfassbar stressig. Unseren Verein gibt es seit zwei Jahren und noch nie sind wir in so einer Frequenz mit Transportern und Lkws losgefahren“, berichtet Tödter heute. Was sie aktuell entlang dieser Grenzen erlebt, ist vielfach das Messen mit zweierlei Maß.
Wer es von Belarus nach Polen schafft, läuft Gefahr, in eine zermürbende Situation gedrängt zu werden: Der Grenzschutz schickt Geflüchtete, die um Asyl bitten – beispielsweise aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, Nordafrika – erneut nach Belarus, wo sie wiederum Richtung Polen getrieben werden. Engagierte der Grupa Granica, ein loser Zusammenschluss humanitärer Hilfsnetzwerke, dokumentieren das brutale und menschenverachtende Vorgehen dieser Pushbacks. Sie lassen das Leben auf drei Kilometer zusammenschrumpfen. Nichts geht vor oder zurück. Andernfalls enden Fluchtversuche in geschlossenen Auffanglagern.
Um die Abschreckungswirkung noch zu steigern, baut die polnische Regierung seit Beginn dieses Jahres eine Mauer. Die Stahlkonstruktion soll gut fünfeinhalb Meter in die Höhe ragen. Gekrönt mit Stacheldraht, damit Menschen nicht hinüberklettern können. Ausgestattet mit Sensoren und Kameras, die jede Bewegung überwachen. Der Grenzwall entsteht inmitten des letzten europäischen Urwalds, der als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet ist. Ein weiterer Baustein auf dem Weg zur Festung Europa – ein menschliches und ökologisches Desaster.
Ganz anders verlaufen die Dinge hingegen zwischen Polen und der Ukraine, wo Tausende Menschen einreisen. Eine „Straße der Tränen“ nennt ein Reporter in der Tagesschau so einen Grenzübergang nach Polen, an dem Familien getrennt, Herzen zerrissen werden. Geschichten von Verlust, Tod und Traumata, die sich als unsichtbare, nie heilende Narbe in die Seele brennen. Die Solidarität ist groß: Ehrenamtliche aus verschiedensten EU-Staaten reisen an, um zu helfen. Und die polnische Bevölkerung selbst wächst über sich hinaus, teilt Häuser, Wohnungen, Grundstücke, organisiert zivile Evakuierungen. Aufnahmebereitschaft hier versus Pushback um Pushback da. Ganz abgesehen von der Diskriminierung und dem Rassismus, den Bi_PoCs auf der Flucht aus der Ukraine erfahren.
Nothilfe in Not
Miriam Tödter und Axel Grafmanns bezeugen diese gegensätzlichen Pole während ihrer Einsätze und berichten von einer bedenklichen Entwicklung: „Wir bekommen Anrufe von etablierten Hilfsorganisationen aus Athen und von der Insel Chios. Sie wissen nicht mehr, wie sie ihre Sachen bezahlen sollen, weil sich Unterstützende zurückziehen, um sich auf die Ukraine zu konzentrieren“, so Tödter. Initiativen gehe schlicht das Geld aus, um Lebensmittel für geflüchtete, wohnungslose Menschen zu kaufen. „Das Gleiche berichten Kooperativen in Bosnien. „Die Lage ist prekär und existenzbedrohend.“ In diesem Geflecht unterstützender Organisationen, die überall an Europas Außengrenzen Hilfe leisten, ist „Wir packens an“ nur ein winziges Puzzleteil.
3. Februar 2022, 13 Uhr: Die Transporte starten aus dem ländlichen Brandenburg heraus. Genauer gesagt aus einem Lager am Rande der 6 000-Seelen-Stadt Biesenthal. Der Dauerregen der letzten Stunden scheint jeden Spalt in der Kleidung zu finden. Es liegt ein klammes Gefühl auf dem Körper und in der Luft, die nach aufgeweichter Pappe riecht. Nur im Halbdunkel sind die Ausmaße der 850 Quadratmeter großen Halle zu erkennen, die versteckt auf dem Gelände einer Fabrik liegt. Deckenleuchten gibt es keine, Licht fällt einzig durch schmale Fensterschlitze unter dem Dach. Auf den ersten Blick wirkt dieser Ort wie ein vollgestellter Dachboden, auf dem der Überblick vor einer Weile verloren gegangen ist.
Miriam Tödter verschwindet zwischen drei Meter hohen Kartonwänden und deutet auf eine Sortierstrecke. Gemeint ist eine lange Tischbank, auf der sich Kiste an Kiste reiht. Hier werden Sachspenden sortiert, die die Initiative über das Jahr einsammelt: Kinderschuhe in bunten Farben, Frauen- und Männerkleidung, Shampoo, Cremes, Hygieneartikel. Die Arbeit verläuft nach dem immer gleichen Schema: sortieren, etikettieren, ordnen. Mal baut ein Gabelstapler Türme aus Paketen, mal steht das Team auf der Leiter. Spenden, die sich nicht verpacken lassen, bilden eigene Grüppchen. Kinderwagen, Babyreisebetten, Krücken und Kanister mit Desinfektionsmittel drängen sich vor einem Stahlregal zusammen.
An diesem Vormittag war die Packaktion schnell erledigt. Vor allem neu gekaufte Ware ist auf der Ladefläche des Trucks gelandet, nichts, was noch händisch sortiert werden musste. In Polen sind Minusgrade. Dicke, regendichte Kleidung wird gebraucht, Schlafsäcke, die bei unter Null warmhalten sowie robuste Winterschuhe gegen Regen, Schnee und Eis. „Das sind alles Dinge, die nicht secondhand gespendet werden und die wir deswegen online kaufen“, sagt Tödter. Am nächsten Morgen brechen sie und Axel Grafmanns zu ihrer sechsten Fahrt nach Bialystok auf, 60 Kilometer entfernt von der polnisch-belarussischen Grenze.
„Eigentlich liegt unser Fokus auf Regionen, die wenig im öffentlichen Interesse stehen. Wir schicken Lkws mit Hilfsgütern in Geflüchtetenlager nach Bosnien und Griechenland oder zu Organisationen, die wohnungslose Menschen in diesen Ländern versorgen. Allein in Athen leben offiziell 40 000 Menschen auf der Straße.“ Im letzten Jahr ging auch ein Truck per Spedition nach Syrien, weil viele Engagierte im Verein selbst aus dieser Region geflüchtet sind. Seit Oktober 2021 ist „Wir packens an“ auch kontinuierlich im polnischen Grenzgebiet präsent. Ein Grund: In Ostbrandenburg liegt diese humanitäre Krise quasi in Greifweite.
„Polen-Belarus war im Herbst und Winter 2021 ein absoluter Brennpunkt und ist heute noch immer ein gefährlicher, jetzt wenig beachteter Fluchtweg. Die Menschen haben keine Zelte oder Ruinen, in denen sie Schutz suchen können. Sie sitzen im Wald mit rein gar nichts. Sie haben kein Feuer, kein Essen und es gibt keine NGOs, die sie versorgen dürfen, weil sie nicht in die Sperrzone kommen“, so Tödter. Es gehe darum nicht zu erfrieren, nicht zu verhungern.
Inzwischen habe sich die Route verändert. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine versuchten es Geflüchtete entweder weiter nördlich, wo der Wald zum Feucht- und Sumpfgebiet wird. „Das heißt, wenn Menschen in der Nacht versuchen, vorwärts zu kommen, bleiben sie stecken, versinken im Moor und müssen Notrufe absetzen, um nicht zu sterben. Oder sie schwenken nach Süden um und nehmen den Weg über die Ukraine, weil das grausamer Weise als erfolgsversprechenderer Weg nach Polen erscheint.“ Tödter gibt zu, dass sie im vergangenen Jahr auch das Aufmerksamkeitsfenster nutzen wollte, dass Polen geschaffen hatte. Für den Verein sei die breite mediale Beachtung ein Türöffner gewesen, um auf die Lage in Griechenland und Bosnien hinzuweisen – und ihr Engagement.
Abhängigkeiten
Das Buhlen um Aufmerksamkeit beschreibt Miriam Tödter als steten Balanceakt, der ihre Arbeit ermögliche, aber auch unter Druck setze: Humanitäre Hilfe hängt von Presse und Wahrnehmung ab. Nur wer bekannt ist und Themen in der Berichterstattung platzieren kann, generiert notwendige Spenden und schafft es, inmitten vielfältig aktiver NGOs zu bestehen. Das drängt im Alltag zum ständigen Marketing in eigener Sache; das Öffentlichmachen des Leids geflüchteter Menschen ist davon nicht ausgenommen.
Da Nothilfe wirksame Medienkampagnen braucht, ist das Logo von „Wir packens an“ omnipräsent. Auf Kartons, auf Hoodies und T-Shirts. „Ganz hart gesagt garantiert uns die Sichtbarkeit, dass wir spenden können. Wir haben nicht ständig einen Auftritt in der Tagesschau. Aber vor Ort werden Fotos gemacht, auf denen dann unsere Kartons zu sehen sind. Jedes Mal, wenn wir sichtbar sind, führt das dazu, dass Leute sagen: ‚Interessant, da können wir ja spenden‘“, sagt Tödter, die im Verein auch für die Pressearbeit zuständig ist.
Das Tragen der Vereinskleidung ist daher so selbstverständlich wie regelmäßige Fotosessions für den Instagramkanal und die Webseite. Wichtig sei ihr dabei, immer andere Gesichter Engagierter zu zeigen. „Wir wollen keine weißen Heldengeschichten erzählen, sondern Geflüchtete in den Mittelpunkt stellen. Die Flucht- und Migrationsszene ist ohnehin ziemlich schräg. Es gibt viele, meist männliche, Einzeldarsteller, die sich als Heroes inszenieren, was wiederum gern von Medien aufgegriffen wird.“ Von dieser Form des White Saviorism wolle sie sich abgrenzen und die Sache an sich in den Fokus rücken.
Bisher führte ihre Strategie zum Ziel: „Wir packens an“ wird selbst prominent unterstützt. Influencer El Hotzo sammelte via Instagram über 40 000 Euro, Jan Böhmermann und Oli Schulz mehr als 300 000 Euro. Tödter nennt das einen Höhepunkt des letzten Jahres. Dankbar für die Wertschätzung und Reichweite, die solche Aktionen bringen. Als gelernte Journalistin weiß sie, dass Nothilfe der Aufmerksamkeitsökonomie unterliegt. Tödter arbeitete viele Jahre für die Hörfunk- und Fernsehredaktion des Rundfunk Berlin-Brandenburg. Auch Grafmanns war dort Fernsehaufnahmeleiter, studierte Konfliktmanagement und Mediation. Heute ist er Geschäftsführer bei „Wir packens an“.
Er und sie
4. Februar 2022, 8 Uhr: So wie Grafmanns den Wagen aus der Einfahrt lenkt, wirkt es für Momente, als würde er aus der dörflichen Idylle in den Urlaub fahren. „So“, ruft er sich im Selbstgespräch zu und lässt die Autotür zufallen. Gleich wird er den Trekkingrucksack auf die Ladefläche werfen, auf der sich Waren im Wert von rund 20 000 Euro sammeln. Um Strukturen aufzubauen und die Vereinsarbeit zu dokumentieren, legt er Wert darauf, dass Mitglieder bei ausgewählten Touren persönlich vor Ort sind. Er setzt zurück und verdeckt beim Ausparken den Blick auf das Fachwerkhaus, in dem er, Tödter und Hund Wusel leben. Dann, wenn sie die Zweitwohnung im 50 Kilometer entfernten Berlin nicht brauchen.
Es steht in einer Sackgasse im Landkreis Märkisch-Oderland. Linkerhand eine Streuobstwiese mit Apfelbäumen, aus denen das Paar seinen eigenen Saft mostert, zur rechten die Fenster der Nachbarn, in denen Orchideen vor Spitzengardinen stehen. Bei Tödter und Grafmanns sind es erzgebirgische Schwibbögen – der letzte Anker in seine Heimat, mit der er gebrochen habe: „Seit den ,Nein zum Heim’-Protesten 2015 schäme ich mich für Sachsen.“
Grafmanns ist kein raumgreifender Charakter, der gern über sein Tun redet und sich dabei zuhört. Er sucht kein Podium. Am auffälligsten an ihm ist an diesem trüben Morgen beinah noch sein schwarzer Kapuzenpulli mit der Aufschrift „Wir packens an“ – die stille, aber klare Ansage eines in sich ruhenden Mannes. Er schließt das Hoftor ab, obwohl Tödter in seinem Rücken ruft, dass sie nochmal ans Auto müsse – zweimal, dreimal. Sie verdreht die Augen in der Tür und lächelt etwas angespannt. Während er einen eher zurückhaltenden Eindruck macht, scheint sie bestimmt und der Situation stets zwei Schritte voraus. Beim Schuhe anziehen, denkt sie daran, gleich mit dem Hund Gassi zu gehen; beim Gassigehen an die Nachricht, die sie noch ihrer Freundin schreiben muss.
Über sich selbst sagen sie, er sei der Emotionale. Der, der bei Liebesfilmen weint. Sie würde sich hingegen immer für Actionstreifen entscheiden. Zwei Gegensätze, die gut zueinander passen und irgendwo zwischen straff organisiert und sympathisch unvollkommen pendeln: Als der Truck endlich startet, wird noch fix ein Selfie für die Community geschossen. Wenig später steht Grafmanns wieder vor der Haustür. Sie haben vergessen, die Tür abzuschließen.
Im Osten was Neues
Die Geschichte der beiden beginnt weit vor „Wir packens an“. Zum Gründungsteam gehört neben Tödter und Grafmanns auch Andreas Steinert. Zusammen waren die drei in der Seenotrettung aktiv. „Axel war von 2016 bis 2018 Geschäftsführer von Sea Watch, Andreas hat als freiwilliger Koch bei Sea Eye und deren Schiff gearbeitet. Ich habe bei Sea Watch den psychologischen Support für die Crews organisiert“, erzählt Tödter. Hier habe sie erkannt, dass sie Dinge anders machen will. Das Ziel? Breitenwirkung in der Gesellschaft entfalten.
Ihre Vision beschreibt sie so: „Wenn ich etwas ändern will, muss ich die Menschen in der Zivilgesellschaft erst einmal an ein Thema ranbringen, damit sie ihren Blick darauf korrigieren. Dafür brauche ich niedrigschwellige Mitmach-Angebote, zum Beispiel Sammelaktionen. Ich muss hier sammeln und einkaufen, damit die Dinge anfassbar sind.“ Brandenburg sei dafür ein guter Platz. Der Vereinssitz in Bad Freienwalde, wo Mitgründer Andreas Steinert einen Handel mit Dekoartikeln betreibt, ist bewusst gewählt. „Seit 20 Jahren ist hier nichts Fortschrittliches mehr passiert. Unsere Initiative war ein Ereignis, das medial gern aufgegriffen wurde. Bei 30 Prozent für die AfD war das seit Langem ein positives Signal, das von der Region ausging.“
Klar mache sie neuen Mitgliedern, dass es bei „Wir packens an“ nicht um Wohltätigkeit und Gnadenakte gehe. „Wir unterstützen Menschen auf Augenhöhe. Nur ein fieser Zufall des Schicksals hat entschieden, dass sie in menschenunwürdigen Situationen festsitzen und wir im Wohlstand.“ Ihre Arbeit will Miriam Tödter deshalb nicht überbewerten. „Wir können nichts an der Lage von Menschen auf der Flucht ändern. Im besten Fall machen wir die Dinge nur ein kleines bisschen erträglicher.“
Aufgewachsen in Westberlin war Tödter schon immer in autonomen Strukturen aktiv. Ihr politisches Engagement sei stets auf Bewegungen konzentriert gewesen, nicht auf Parteien. Demos und Protest gehören seit jungen Jahren zu ihrem Alltag. Mit ihrem Feuer steckt sie Grafmanns an. „In meinem Bekanntenkreis war ich lange der, der gesagt hat: ‚Lasst uns zur Antinazi-Demo oder zum G8-Protest fahren.‘ Als ich Miriam getroffen habe, bekam das eine andere Dynamik. Sie wusste immer, wo etwas los ist und hat darauf gedrungen: ,Da müssen wir hin.‘“ Seine eigene Politisierung spielt hingegen zur Zeit der Wiedervereinigung.
Mit 16 beginnt er in der DDR eine Ausbildung zum Mess- und Regelmechaniker, sucht dann mit dem Mauerfall aber einen anderen Blick auf die Welt durch Reisen. „Unterwegs zu sein, hat mir die Augen geöffnet, wie privilegiert und glücklich ich mich schätzen darf. Und es hat mir klar gemacht, dass ich etwas tun muss.“
Zurück zur “Normalität”
5. Februar 2022, 11 Uhr: Nach 27 Stunden liegen rund 700 Autobahnkilometer hinter Tödter und Grafmanns. Die Konstellation ist oft dieselbe: Er fährt, sie navigiert mit dem Smartphone. Hund Wusel sitzt in der Mitte und macht es sich auf der Hundedecke bequem, den Kopf auf Grafmanns Arm abgelegt. Die Gespräche drehen sich meist um Organisatorisches, Termine, den Zeitplan. Grafmanns lenkt den Truck am Bahnhof von Bialystok vorbei, biegt nach rechts und rollt auf einen schmucklosen Hinterhof. Im angrenzenden Flachbau werden Fenster aufgerissen, aufgeregte Stimmen schallen nach draußen. Zwei Jungs kommen angerannt, wie elektrisiert von ein bisschen Abwechslung in ihrem Alltag. Schnell bilden sie eine Kette, reichen die Pappkartons mit Desinfektionsmittel, Kleidung und Thermounterwäsche von Hand zu Hand durch ein großes Fenster ins Lager der kleinen Hilfsorganisation.
Drinnen werfen Neonleuchten Licht in den Flur, links und rechts werden provisorisch eingerichtete Zimmer zum sicheren Rückzugsort traumatisierter Menschen. An einer Tür pappt ein Aufkleber mit der Aufschrift „Toaleta“, jemand hat versucht, das Piktogramm abzukratzen. Der ehemalige Toilettenraum wurde zur Notunterkunft umfunktioniert. Durch den offenen Türspalt dringt Stimmengewirr, wieder wildes Durcheinanderplappern. In dem Zimmer mit vier Doppelstockbetten lebt ein Vater mit seinen fünf Kindern aus gepackten Rucksäcken. Die Jalousien sind heruntergelassen, auf den Pritschen liegen einfache Wolldecken, unter dem Bett ein Schlitten. Die Familie ist Teil einer Gruppe von 15 Menschen, die es durch den Wald geschafft haben und zunächst in einem geschlossenen Geflüchtetenlager gelandet sind – „Asylgefängnisse“, wie Miriam Tödter sie nennt.
Wegen schwerer psychischer Beeinträchtigungen hat sie der polnische Grenzschutz in die Räume der Dialogue Stiftung weitervermittelt, wo sie individuelle Betreuung erfahren. Durch Engagierte wie Karolina Matusik. Sie begleitet bei Behördengängen und durch Asylverfahren, organisiert die medizinische Versorgung, sucht nach Wohnungen und arbeitet daran, ein Stück Alltag in eine Situation zu bringen, die völlig entgleist ist. Zurück zur Normalität – wie soll das gehen angesichts der Erfahrungen, die an diesem Ort aufeinandertreffen?
Ihre Aufgabe sei sehr grundsätzliche Hilfe, erklärt Matusik. Kleine Schritte zurück ins Leben. Denn die Probleme, mit denen Menschen an der Grenze konfrontiert waren, seien drastisch. „Wir betreuen einen Mann, der seine zwei Brüder im Wald begraben musste. Er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und Sie haben unseren Familienvater kennengelernt. Seine schwangere Frau ist wegen der Flucht durch den Wald gestorben. Die fünf Kinder haben das miterlebt. Alle sind am Boden zerstört. Das sind Dinge, die nicht zu verkraften sind. Wir unterstützen also, wo es überhaupt geht.“ Mithilfe von Matusik versuchen Menschen zu richten, was von ihrem Leben übrig ist. Sie leben mit quälenden Erlebnissen, weil politisch entschieden wurde, dass ihnen Wege auf dieser Welt versperrt bleiben. Ihre Geschichten vom Wunsch einer Zukunft in Europa bleiben vielfach im Wald verborgen. Abgeschirmt in der Speerzone. Sichtbar werden sie erst im Kontakt mit Engagierten, die oft aus versteckten Orten heraus agieren. So wie jenem, der circa 50 Minuten von Bialystok entfernt liegt.
Im Wald
5. Februar 2022, 13 Uhr: In Schrittgeschwindigkeit schiebt sich der Wagen auf dem vereisten Waldweg vorwärts, kippt hin und her, wenn die Reifen ein Schlagloch im Boden treffen. Die Bäume kommen näher und verschlucken den Truck kurze Zeit später vollständig. Bei der Ankunft in Polen blinkte gestern eine Nachricht auf dem Smartphone auf: „Wegen heftigen Sturmböen nach Möglichkeit zu Hause bleiben. Halten Sie sich nicht unter Bäumen auf.“ Bittere Realität. Schwankend fährt Grafmanns auf ein schneebedecktes Holzhaus zu. Ein Privatmensch hat es der Grupa Granica überlassen. Bis zu neun Freiwillige leben hier seit Monaten im Schichtbetrieb und wechselnder Besetzung. Die rosafarbene Mütze sticht in dieser blassen Winterlandschaft sofort hervor. Magda Wroniszewska trägt sie auf dem Kopf und kommt mit einem breiten Lachen auf den Wagen zugelaufen. „Great to see you. Please come in, there is some carrot cake for you.“
In den Fensterbrettern liegen Walkie-Talkies und Ferngläser. Eine Rettungsdecke ist wie eine Fahne an einen langen Ast gebunden und steht in der Ecke. Von hier aus starten die Frauen und Männer ihre Interventionen in den Wald. Ihre Betreuung von Geflüchteten sei immer legal, aber selten mit der Grenzpolizei abgestimmt. „Sie rufen uns nicht an, wenn sie Menschen im Wald finden. Und wir rufen sie nur an, wenn uns Leute danach fragen oder sie brauchen“, erklärt die Mutter von drei Kindern, die als Architektin in Warschau arbeitet. Generell bewege sie sich im Wald immer in einer Gruppe. Niemals allein. „Wir nehmen Rucksäcke mit Wasser, Essen, trockener Kleidung und Schuhen oder Powerbanks mit. Manchmal leisten wir einfache medizinische Hilfe.“ Jetzt sei es ruhig und es komme vor, dass sie keine Menschen, sondern nur ihre zurückgelassenen Sachen finden. „Dann räumen wir auf und hängen Erste-Hilfe-Pakete in die Bäume.“
Ihr Aktivismus im Wald hat im Winter 2021/2022 zu einer großen Polizeirazzia geführt. Rund 50 Uniformierte durchsuchten damals die Räume. Der Vorwurf: Menschenschmuggel, die Engagierten hielten Geflüchtete versteckt. Es ist das mittlerweile bekannte Vorgehen, humanitäre Hilfe zu kriminalisieren wie bereits etliche Fälle der zivilen Seenotrettung gezeigt haben. Nach der Durchsuchung des Crewhauses soll es im März auch zu ersten Verhaftungen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet gekommen sein. Miriam Tödter schildert den Fall anhand von Berichten befreundeter Personen wie folgt: Mitglieder der Grupa Granica greifen eine Familie mit sieben kleinen Kindern im Wald auf und bieten an, sie mit den Privatautos wegzufahren. Mutter und Vater sollen sofort einwilligen. Unterwegs werden sie vom Grenzschutz angehalten, beschuldigt, illegal Grenzübertritte durchzuführen und verhaftet.
Die Absurdität laut Tödter: „In der Ukraine haben die Engagierten gleiches getan, werden jedoch für die zivile Evakuierung Kriegsflüchtender gefeiert. An der polnisch-belarussischen Grenze gelten für dieselbe Menschlichkeit andere Regeln – und Nothelfende als Kriminelle.“ Prüfen lässt sich diese Schilderung nicht; in der Berichterstattung wird der Fall nicht weiter aufgegriffen. „Seitdem halten wir die Füße still. Unsere Kontaktleute sind sehr zurückhaltend. Es gibt Hausdurchsuchungen bei Anwohnenden in Dörfern, die nah am Wald liegen. Die Menschen verstecken ihre Handys im Freien und verbannen jegliche Spenden oder Hilfsgüter aus ihren Privaträumen. Die Repressionen sind so akut, dass wir niemanden gefährden wollen, indem wir mit Kartons und deutschem Nummernschild auftauchen“, erklärt Tödter. Mit den Aktiven um Magda Wroniszewska sei die Kommunikation inzwischen komplett abgebrochen.
Netzwerke schützen
5. Februar 2022, 19.30 Uhr: Axel Grafmanns kommt am Ende der Hauptstraße zum Stehen und schaltet den Motor aus. Das kleine Dorf am Wald liegt friedlich in der Dunkelheit, die Wärme in den schlichten Holzhäuschen scheint draußen in der Kälte fast spürbar. Polizei und Grenzschutz scheren hinter dem Truck ein. Auf der Fahrt haben Grafmanns und Tödter genau besprochen, wie sie jetzt vorgehen wollen – und sie haben mit ihren Kontaktleuten der Grupa Granica telefoniert. Der Ton ist hitzig. Die Ansage unmissverständlich: „Bringt auf keinen Fall die Polizei hierher!“ Axel Grafmanns steigt aus und erklärt, dass Haus der Freundin in der Dunkelheit nicht wieder zu finden. Telefonisch erreiche er niemanden, außerdem sei er übermüdet: „Ich würde jetzt gern zurück nach Bialystok fahren, um dort zu übernachten.“
Doch die Grenzschützer wehren ab und verlangen die Handys, um die letzten Anrufe nachzuvollziehen, erinnert sich Tödter. „Dieses Vorgehen war absolut illegal, aber wir wollten nicht diskutieren. Allein, mitten in der Nacht, in der Kälte, irgendwo im polnischen Wald.“
Das Pressehandy von „Wir packens an“ hält sie versteckt am Körper. Die Privattelefone wandern in die Hände der Polizisten. Die Männer scrollen unzufrieden durch Nachrichten und Nummern, verstehen nichts und fragen nach. Aber Grafmanns und Tödter geben sich weiter unwissend. Das Hin und Her geht vielleicht eine halbe Stunde, schätzt Tödter. „Irgendwann war es ihnen zu blöd und wir durften umdrehen Richtung Bialystok.“ Die Kartons mit den Spenden aus Deutschland laden sie unterwegs in einem anderen versteckten Lager ab. Damit sei der Zweck der Reise erfüllt: „Wir haben unseren Job gemacht, ohne hiesige Strukturen zu gefährden. Das ist das Allerwichtigste: Die Netzwerke Engagierter müssen geschützt werden.“
Dass ihre Arbeit weiter gebraucht wird, ist sicher. Denn in nur sieben Jahren hat sich die Zahl flüchtender Menschen laut UNHCR von rund 65 Millionen 2015 auf 101 Millionen 2022 erhöht. Initiativen wie „Wir packens an“ werden dieser Herausforderung weiter aktiv begegnen, statt wegzusehen und praktisch anpacken, anstatt humanitäre Krisen schweigend auszusitzen.
Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.