Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Wer ist Hila Latifi? Es braucht zwei Hände, um die passenden Antworten daran abzuzählen: Afghanin, Hamburgerin, Podcasterin, Expertin, Institutsleiterin, Sprecherin, Migrantin. Mit all diesen Begrifflichkeiten fühlt sich Hila Latifi wohl, sie kann sich gut mit ihnen identifizieren, doch mit einem Label ringt sie immer wieder: „Ich bezeichne mich als Aktivistin, aber das war keine konkrete Entscheidung. Ich habe mir das gar nicht ausgesucht, sondern bin da rein gerutscht.“ Ihre Biografie lässt die Vermutung zu, dass dies unausweichlich war.
Hila Latifi ist eine gewichtige Gesprächspartnerin, um die Entwicklungen der letzten Zeit und die aktuelle Situation in Afghanistan besser zu verstehen. Mit sechs Jahren floh sie mit ihren Eltern aus ihrem Heimatland, das die Taliban damals schon seit drei Monaten besetzt hielten. Die Familie durchquerte elf Länder, bis sie in Bremen ankam. Latifis jüngster Bruder ist auf der Flucht geboren, in Moskau. „Ich habe aus mehreren Perspektiven miterlebt, was es heißt, in Deutschland anzukommen.“ Und sie sei „die Laute“ gewesen, sagt sie, habe schnell Sprachen gelernt und deshalb auch früh Verwaltungsaufgaben und Behördengänge für ihre Familie übernommen. „Wir mussten einfach funktionieren. Alle mussten mithelfen, damit es klappt.“
Dass Kinder Aufgaben übernehmen, die eigentlich Erwachsenen obliegen, komme gerade in migrantischen Familien vor, ordnet Hila Latifi ein. „Parentifizierung“, der Fachausdruck kommt ihr selbstverständlich über die Lippen. Neben der Erwerbsarbeit als systemische Beraterin und politische Bildnerin engagiert sie sich für die Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan. Sie begleitet den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, der die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr beleuchten soll. Sie hält Workshops und Vorträge zu ihrem Geburtsland, ist außerdem Anlaufstelle und Sprachrohr für die afghanische Community in Hamburg. Die Rolle der Vermittlerin behält sie also auch als Erwachsene.
Emanzipation vom Elternhaus
Sich einbringen, mitentscheiden, Verantwortung übernehmen – Werte, die Hila Latifi schon früh lebt. „Ich bin durch meine Eltern sehr politisch aufgewachsen.“ Deren linke Einstellung sei von ihrer Arbeit für die sozialistische Regierung in Kabul geprägt gewesen. „Als wir 2000 nach Deutschland kamen, ging hier politisch nicht viel“, sagt Latifi. In Bremen gründeten die Eltern einen Verein, der sich aus dem Exil heraus für Menschen in Afghanistan starkmacht, indem er beispielsweise Geld für den Aufbau von Schulen sammelt. Die Mutter gab in der neuen Heimat Sprachunterricht. Latifi selbst hielt als Klassen- und Schulsprecherin Reden für Gerechtigkeit.
Und sie weiß damals schon sehr genau, wovon sie spricht. Trotz der Anerkennung, die sie als Jugendliche erlebt, fühlt sie sich oft fremd. „Das sind Dinge, die erst einmal im Widerspruch stehen: Ich war bekannt und beliebt, gleichzeitig habe ich mich aber nicht verstanden und zugehörig gefühlt. Erst später habe ich Worte dafür gefunden und schließlich erkannt, was es ist: Rassismus.“ Widersprüche nicht zu scheuen, sondern anzuerkennen und aufzublättern – es sind diese Fähigkeiten, die in Latifis analytischen Betrachtungen immer wieder aufblitzen.
Obwohl ihre Eltern wohlhabend sind und die Flucht über Kontakte organisieren können, sind sie in Deutschland erst einmal auf Hartz 4 angewiesen: „Ich wusste damals schon, dass das nichts ist, für das ich mich schämen muss, sondern für das sich eine Gesellschaft schämen sollte. Trotzdem habe ich es verschwiegen.“ Die Kreise, in denen Latifi groß wird, beschreibt sie als vorwiegend weiß, ländlich, konservativ. Mit dem Heranwachsen bekommt sie Hunger auf Neues. Das nicht weit entfernte Hamburg war ihr damals schon als „Klein Kabul“ bekannt.
Dort lebt mit über 40 000 Menschen eine der größten afghanischen Gemeinschaften Europas – entstanden durch Handelnde, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren in die Hansestadt zogen. Zahlreiche Geschäfte, vierzig Vereine: Latifi will Anschluss finden – und sich von ihren Eltern emanzipieren. Hamburg weckt große Hoffnungen. Sie erwartet das quirlige Leben, doch wird erst einmal enttäuscht. Der afghanische Alltag verläuft hier weitaus dezentraler als erwartet. Letztlich ein Spiegel seiner charakteristischen Heterogenität, auch in der Diaspora.
Verlorengegangenes Interesse
Zahlreiche Gruppen und Ethnien bilden die Identität Afghanistans: die pashunische Dominanz, die schiitische Minderheit Hazara, Menschen aus den benachbarten Ländern Tadschikistan und Usbekistan. „Afghanistan kann so vielfältig sein, dass das Andere wahrgenommen, aber nicht abgewertet wird“, beschreibt Latifi das Potential. In der tieferen Auseinandersetzung mit den Communities begann sie, intersektionaler zu denken und auch die eigene Position kritisch zu hinterfragen. „Als Paschtunen gehören wir der dominanten Ethnie an. Meine Mutter entstammt der königlichen Familie. Ich habe meine eigenen Privilegien erkannt.“
In ihrem Podcast, der den provokanten Titel „Opium“ trägt, geht Hila Latifi auf Spurensuche und lädt die Community zur Auseinandersetzung mit Tabu-Themen ein – die Diskriminierung der Hazara zum Beispiel. Genauso schaut sie auf Schnittmengen mit der iranischen Kultur und damit auf das aktuelle revolutionäre Geschehen in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens: „Politisch betrachtet ist es derselbe Kampf, den afghanische und iranische Frauen kämpfen“, sagt Latifi. „Der Einbezug der verschiedenen Communitys hat eine ganz eigene Stärke. Nicht in Konkurrenz gegeneinander zu arbeiten, sondern miteinander.“
Doch die Ökonomie der Aufmerksamkeit erschwere dieses Bestreben. In der öffentlichen Wahrnehmung überlagert der russische Angriff auf die Ukraine und die Proteste im Iran die im Stich gelassenen Ortskräfte und die verzweifelte Lage der Frauen in Afghanistan. „Es entsteht schnell eine Konkurrenz-Dynamik, indem eine seltsame Priorisierung stattfindet“, kritisiert Hila Latifi. „Wenn etwa afghanische Menschen ihre Übergangswohnräume für Menschen aus der Ukraine verlassen müssen. Das darf einfach nicht passieren.“ Die Folge seien Frust und ein Gefühl der Benachteiligung. Die Solidarisierung falle so schwerer und es entstünden Gräben.
Kritik an Evakuierungsmission
Hila Latifi kämpft deshalb weiter dafür, dass Afghanistan nicht vergessen wird. Als die Taliban im August 2021 die Macht im Land übernahmen, rief es beklemmende Erinnerungen wach – an geschlossene Checkpoints, dicht gedrängte Menschen, Schreie, Schüsse in die Luft. „20 Jahre später wiederholt sich das alles“, bemerkt Latifi fassungslos. „Wo bleibt der Aufschrei?“ Seit kurzem finden in Afghanistan wieder öffentliche Hinrichtungen statt: Steinigungen mit Publikum in Stadien. Dass dies hierzulande größtenteils unbeachtet bleibt, ist in ihren Augen symptomatisch für die vergangenen Monate: „Ich habe das Gefühl, dass Afghanistan gerade bewusst rausgehalten wird aus der deutschen Politik, weil unheimlich große Scham- und Schuldgefühle von Seiten der Regierung im Spiel sind. Es ist sehr viel sehr schief gelaufen.”
„Bereits zwei Jahre vor dem Einmarsch der Taliban wurde das Szenario der Machtübernahme in Afghanistan durchkalkuliert“, stellt Lafiti trocken fest. Kritische Stimmen jedoch seien nicht ernst genommen, Proteste nicht gehört, Warnungen missachtet worden. Und der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sei 20 Jahre lang mit dem Engagement für afghanische Frauen und Mädchen legitimiert worden. Die Schulbildung galt als Aushängeschild. „Jetzt zu sehen, dass genau diese Menschen zurückgelassen werden …“ Hila Latifi schluckt und lässt den Satz aushallen. Deutschland habe von den Ortskräften profitiert und mit den eigenen Strukturen auch landeseigene Ressourcen entzogen. Sie erklärt es am Beispiel der Krankenhäuser: „In europäischen Einrichtungen wurde vor Ort das Doppelte, Dreifache an Lohn gezahlt. Das war natürlich eine harte Konkurrenz für die örtlichen Krankenhäuser.“
Überforderter Regierungsstab
Unverständlich sei ihr nach wie vor, wie Menschen, die Arbeitsverträge mit der deutschen Bundesregierung hatten, nicht ausreisen konnten, weil es an Namenslisten mangelte. „Die Menschen haben regulär Geld bezogen. Es musste doch Nachweise geben, Adressen.“ In der Krise im August 2021 meldete sich Hila Latifi aus ihrem Urlaub beim Auswärtigen Amt und bot an, entsprechende Listen zusammenzustellen. Die Regierungsbehörde allerdings habe sich erschreckend planlos gezeigt. Gemeinsam mit Mitstreitenden habe Latifi dann Namen in ein bereitgestelltes Worddokument eingetragen. „Sensible Daten“, schimpft sie genervt über die improvisierte Methode. „Es gab lange Zeit vorher Prognosen und Ideen dazu, die Ortskräfte da rauszuholen. Die Bundesregierung hat sich dagegen entschieden, weil sie generell keine Aufnahmebereitschaft signalisieren wollte.“
Viel Hoffnung habe Latifi in die Initiative Kabul Luftbrücke gesetzt, erzählt sie, und diese auch unterstützt. Letztlich sei die Evakuierung auf eigene Faust jedoch „politisch und strategisch nicht klug“ gewesen, beurteilt sie. „Ich schätze Initiatorin Theresa Breuer sehr und möchte sie nicht als Person kritisieren. Trotzdem müssen wir in der Lage sein, uns in unseren Aktionen zu reflektieren. Das ist aus meiner Sicht nicht ausreichend erfüllt. Die Initiative hat sich da zu viel zugetraut und das hat letztlich dazu geführt, dass die Bundesregierung sich zu sehr auf deren Aktionen gestützt hat.“ Die Regierenden hätte mehr in die Verantwortung genommen werden müssen, um professionelle Rettungswege zu finden. Das diese Aufgabe bei einer NGO liegt, sei nicht zu verantworten – schließlich geht es um Menschenleben.
„Im Ergebnis“, fasst Hila Latifi zusammen, „gibt es jetzt ein Aufnahmeprogramm, das wie eine humanitäre Hilfeleistung wirkt. Damit wird in keiner Weise die Verantwortung erfüllt, die die Regierung hat und hatte. Es wäre ihre Pflicht gewesen, die Ortskräfte sicher rauszubringen – und nicht die einer freiwilligen Rettungsinitiative. Das ist nicht das, was versprochen wurde.“
Die Frauen leisten Widerstand
Mit sehr viel Skepsis beobachtet Hila Latifi auch die wöchentlich stattfindenden Sitzungen des Untersuchungsausschusses: „Es wurden krasse Fehlentscheidungen getroffen. Und jetzt sitzen mehrheitlich Vertretungen ebenjener Parteien in dem Ausschuss, die diese auch zu verantworten haben.“ Latifi versinkt kurz in Stille, dann fragt sie: „Wie viel Hoffnung kann ich da in die lückenlose Aufklärung haben?“ Viel zu häufig nehme sie als einzige Beobachterin teil, das Interesse scheint über die Zeit immer weiter zu schwinden. Letztlich sei es aber das, was insbesondere den afghanischen Frauen helfen könne: Sichtbarkeit. „Das mag banal klingen, aber wir müssen darüber informieren und Solidarität zeigen.“
In Vorträgen und Workshops spricht Latifi über die Geschichte des weiblichen afghanischen Widerstands. Anhand von Biografien kämpferischer Frauen bettet sie die aktuellen Ereignisse in 100 Jahre Landesgeschichte ein. Dass sie insbesondere aus queerfeministischen Gründen ausschließlich von „afghanischen Frauen“ spricht, nicht jedoch von Queers, gehöre zu den Widersprüchlichkeiten, die sie gut begründen kann: „Queers und Flinta sind in dem Fall keine Selbstbezeichnungen. Die Kategorie ‚Frau‘ ist die einzige, die unter den patriarchalen Taliban überhaupt existieren darf. Es bietet einen gewissen Schutz, sich unter diesem Deckmantel auf die Straße zu stellen. Ich habe mich persönlich dagegen entschieden, diese zu outen.“
Um auf die Lage in Afghanistan aufmerksam zu machen, gibt Latifi Interviews. Für sie ist es ein Balanceakt, will sie nicht nur als „Gesicht der afghanischen Frauen“ gelten, sondern auch gehört werden: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ältere Männer um eine Einschätzung der politischen Situation gebeten werden. Ich dagegen soll sagen, wie es mir geht – ob mich die Situation traurig macht“, beschreibt sie. „Ja klar, ich bin eine Frau und ich bin jung. Ich kann verstehen, dass mir solche Fragen gestellt werden. Trotzdem finde ich es nicht richtig.“ Hila Latifi bleibt geduldig, diplomatisch, zieht Grenzen. Wieder und wieder. Das ist vielleicht das, was sie in ihrem Engagement so fordert – letztlich aber auch das, was sie antreibt: „Ich mache keinen Aktivismus, um Aktivismus zu machen. Ich mache das wegen der Themen.“
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.