Fürsprecher — Aljosha Muttardi

Aljosha Muttardi ist der gute Freund, der einem schlagende Argumente zuflüstert, wenn auf der Familienfeier wieder über Tofu geschimpft wird. Auf Social Media ist er für viele zu dem Vorbild geworden, das er sich immer wünschte.
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Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak

„Du bist Moderator, oder?“ Erwartungsvoll schaut das Trio auf Aljosha Muttardi. Die drei Hamburg-Gäste hatten eigentlich nur nach dem Weg fragen wollen. Dann kam der Moment des Wiedererkennens: „Hey, du bist doch aus dem Fernsehen!“ Muttardi lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Er hilft nicht gleich auf die Sprünge, sondern beobachtet gespannt. Ihm ist es weniger wichtig, bekannt zu sein, als vielmehr wofür. „Na klar, du hast doch bei Queer Eye Germany mitgemacht. Ich liebe diese Sendung!“ Muttardi nickt freundlich, erklärt den Weg zu einer Bäckerei auf St. Pauli und widmet sich wieder seinem Kaffee – natürlich mit Hafermilch. 

Aljosha Muttardi ist einer der bekanntesten veganen Influencer im Land. Auf dem Youtube-Channel „Vegan ist ungesund“ klärte er bis vor einem Jahr zusammen mit Gordon Prox über Ernährungs-Mythen auf, testete Fleischersatzprodukte vom Discounter, gab Alltagstipps vom veganen Spülmittel bis hin zum Pausenbrot für Kinder. Bis zu 300 000 Mal wurden die Videos geklickt. Die Idee lebt auch nach der „Trennung“ fort, denn mittlerweile führt Muttardi seinen selbstgewählten Bildungsauftrag über seine Social Media-Kanäle alleine weiter.

Allrounder: eine treffende Vokabel, um Muttardi zu beschreiben. Er kann zu Sonnencreme genauso spontan beraten wie zu Nachtschlaf, Hundehaltung oder dem Impostor-Syndrom. In seiner Person bündeln sich gleich mehrere Themen unserer Zeit: Nachhaltigkeit, Tierschutz, Queer-Sein – und er kümmert sich um alle mit der nötigen Hingabe und inhaltlichen Tiefe. Seinen Aktivismus beschreibt er als intuitiv: „Er entsteht aus dem, was ich fühle und selber durchmache und reflektiere.“ Und Aljosha Muttardi reflektiert viel, insbesondere sich selbst. 

Er spricht über seine Ängste, empört sich, zeigt sich verletzlich und deckt mit lässiger Ironie Doppelmoral auf. Diese Offenheit ist gleichzeitig sein Schild und sie inspiriert die Community. Muttardi neigt nicht zu Moralpredigten. Vielmehr durchlebt und durchdenkt er Probleme vor der Kamera, ermutigt zum Weitergehen und räumt die Menschlichkeit des Scheiterns ein. Mit Herz und Schlagfertigkeit trägt er zu einer neuen Selbstverständlichkeit von Veganismus bei – und er spannt den Bogen von persönlichen Themen wie mentaler Gesundheit und sexueller Identität bis hin zu globalen Aufgaben wie Klimaschutz und Geschlechtergerechtigkeit.

Online erobert er so ein breites Publikum und verknüpft außerdem Filterblasen miteinander. Dabei piekt er bewusst in Komfortzonen: „Ich kann nicht über Veganismus sprechen und nur lieb sein. Ich freue mich zwar, wenn Leute überhaupt Schritte machen, aber ich kann nicht sagen: ‚Cool, du hast Bio-Fleisch gekauft, das reicht!‘ Fakten auszublenden ist ein krasses Privileg.“ In den Kommentaren unter seinen Postings häufen sich Zuspruch und Beifall – nicht nur von überzeugt vegan Lebenden, auch von Menschen, die dabei sind ihre Lebensweise umzustellen, die ein Outing durchleben oder sich ihrem seelischen Leiden stellen. 

Wohlfühl-TV-Host

Selbst vegan geworden ist Muttardi durch Videos aus Mast- und Schlachtbetrieben: „Ich war vollkommen fertig mit der Welt. Ich konnte nicht verstehen, wie wir Lebewesen so etwas antun können.“ Stück für Stück habe er die Tragweite überblickt, bemerkt er: Zerstörung der Umwelt durch Abwässer und Abholzung für Weideflächen und Futtermittelanbau, gesundheitliche Folgen des Fleischkonums, Begünstigung von Pandemien durch multiresistente Keime. Er sei leidenschaftlicher Fleischesser gewesen, erzählt Aljosha Muttardi. Umgeschwenkt sei er nicht aus mangelndem Appetit, sondern aus ethischen und moralischen Gründen.

Rein ökonomische und wissenschaftliche Bewertungen von Veganismus betrachtet er kritisch und beruft sich auf die Empathie mit den Lebewesen, die wir als Menschen gleichermaßen vergöttern wie ausbeuten. Was er in seinem Aktivismus habe lernen müssen: Geduld. „Ich habe mich ein bisschen davon verabschiedet, Menschen in dem Tempo von meinen Themen zu überzeugen, in dem ich es gern hätte. Das endet nur in Frustration.“ Er habe beschlossen, „die Machtlosigkeit ein Stück weit zu akzeptieren und die Vehemenz trotzdem beizubehalten“.

Ein Erweckungserlebnis sei für Muttardi seine Teilnahme an „Queer Eye Germany“ gewesen – ein Makeover des US-amerikanischen Originals „Queer Eye for the Straight Guy“. 2018 legte der Streamingdienst Netflix die Serie neu auf. Fünf Staffeln sind seitdem entstanden, die nicht nur in den USA spielen. Deutschland ist das erste Land, in dem ein Ableger produziert wurde. Muttardi schwärmt von dem Wohlfühlformat, bei dem fünf Queers mit ganz unterschiedlicher Expertise eine Woche lang ausgewählte Personen begleiten und ihnen helfen, den Glauben an sich selbst wiederzufinden, Verluste zu verarbeiten oder lang gehegte Wünsche umzusetzen.

Da ist der alleinerziehende Familienvater, der sich auf ein Date vorbereitet. Die Ehefrau und Mutter, die sich wieder mehr Zeit für sich nehmen möchte oder der junge Erwachsene, der kurz vor seinem Outing steht und endlich aus dem Elternhaus auszieht. Wo die Privatsender Privatsphäre ausschlachten, sensible Details bloßstellen oder Mitwirkende in Fettnäpfchen schubsen, schwingt „Queer Eye Germany“ die Puderquaste der Zärtlichkeit.

Umarmungen, Zuspruch, Komplimente: Neben einem neuen Look, renovierten Wohnungen, Ernährungsberatungen und Life-Coachings hinterlassen die „Fab 5“ einen Glitternebel aus Selbstliebe. Schrill, herzig, offensiv liebevoll. Aljosha Muttardi wurde für den Bereich „Health“ angefragt und war vor Freude darüber komplett aus dem Häuschen. Er arbeitete zu dieser Zeit als Anästhesist in einem Krankenhaus und betrieb parallel „Vegan ist ungesund“. Den Beruf als Arzt gab er für die Teilnahme auf. Dass das viele Leute überraschte, ist wiederum für ihn verwunderlich – eine solche Chance habe er sich auf keinen Fall entgehen lassen wollen.

Mehr Sichtbarkeit

Für Muttardi sei das Set ein ungewohnter Schutzraum gewesen, erzählt er. „Bei Queer Eye habe ich mich und meinen Standpunkt in der Gesellschaft reflektiert.“ Und durchaus auch schmerzliche Fragen aufgeworfen: „Wieso habe ich mich versteckt? Warum fühle ich mich unwohl, wenn ich vermeintlich nicht-queere Dinge tue oder Sachen trage? Und warum tue ich es dann trotzdem?“ Er stellte an sich selbst einen Performance-Druck fest, der auch bei der Arbeit im Krankenhaus auf ihm gelastet hatte, und führte das auf seine fragile Stellung als queere Person in einer heteronormativen Gesellschaft zurück. 

Ihm sei klar geworden: „Ich wollte bis dahin möglichst wenig Angriffsfläche geben, um keine Diskriminierung zu erfahren. Ich habe gemerkt, wie ich selbst Queerfeindlichkeit internalisiert habe und mich in der Vergangenheit transphob geäußert habe, um mich zu distanzieren.“ Auf den Rückfahrten von den Dreharbeiten sei sein Blick immer wieder auf seine noch lackierten Fingernägel gefallen. Warum fühlte sich das „drinnen“ selbstverständlicher an als „draußen“? Aljosha Muttardi habe mehr zu sich Selbst stehen wollen, beschreibt er. Und „Queer Eye“ habe ihm diese Möglichkeit eröffnet, und – so hofft er – auch vielen Zuschauenden.

„Als Kind hätte ich mir ein queeres Vorbild gewünscht. Alles war weiß, heteronormativ und cis – selbst in Schulbüchern! Die einzigen Assoziationen, die ich in Bezug auf Homosexualität und Queerness in der Schule mitbekommen habe, waren negativ“, so Muttardi. Sichtbarkeit ist für ihn das Schlagwort der Stunde und das, was Formate wie „Queer Eye“ leisten können. Andere queere Reality-TV-Formate lässt er deshalb aber keineswegs unkommentiert. So setzt er sich mit der Dating-Show Prince Charming auseinander, kritisiert problematische Aussagen und „Oberflächlichkeiten“, teilt Erfahrungen und bietet der Community virtuell einen Fernsehabend auf dem Sofa, um sich angeregt darüber zu unterhalten: Konsum wird zu Diskurs.

Als Vorbild sieht sich Aljosha Muttardi ungern, auch wenn er nicht bestreiten kann, dass viele sich an ihm orientieren: „Alle Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, haben letztlich auch eine Vorbildfunktion. Die Frage ist: Wie gehe ich damit um? Ich will meine Widersprüche so darstellen, wie sie eben sind: Manchmal komme ich nicht aus dem Bett und hasse Menschen, an einem anderen Tag finde ich die Welt eigentlich ganz okay. Um mich zu trösten, hat mein Vater immer zu mir gesagt: ‚Wenn die Queen of England aufs Klo geht, stinkt es wie bei allen anderen.’ Ganz plump gesagt: Ich gehe auch kacken.“

Doch ist es nicht auch fordernd, für den Aktivismus die eigene Privatsphäre zum Forum zu machen und sich mit seinen Ideen der Öffentlichkeit zu stellen? „Wenn es nur anstrengend wäre, würde ich es nicht machen“, erwidert Aljosha Muttardi. „Ich bekomme ja Resonanz. Es gibt nicht die eine, richtige Form von Aktivismus. Ich habe meine für mich gefunden.“

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.

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